Brasilien. Reiseerlebnisse eines deutschen Siedlers

Klingelnborn bei Balve i.W.
Preis 50 Pfg. Zimmermann-Verlag

Unter den deutschen Kolonisten
im Urwald von Brasilien

Erlebnisse eines westfälischen Arbeiters, von ihm selbst berichtet.  
Von Josef Heimann – Klingelnborn Balve

Der Hamburger Postdampfer „Guayaba“ war glücklich im Hafen von „Sao Franzisco do Sul“ in Südbrasilien angekommen, und landete seine Passagiere, darunter die meisten derselben sich der deutschen Kolonie „Hansa“ verpflichtet hatten. Eine eigentliche Verpflichtung lag zwar nicht vor, doch hatten sie das Versprechen gegeben, sich auf der Hansa anzusiedeln, wofür ihr Gepäck samt Weib und Kind den 80 km langen Weg durch eine bereits besiedelte Landschaft, zur Urwaldkolonie Hansa mit dem Stadtplatz „Humboldt“, gratis gebracht wurde.

Zu der Karawane zählte auch ich; und wir alle konnten uns kaum satt sehen, an der großartigen schönen Landschaft. Schon am Landungsplatz, Sao Franzisco, zogen nur stattliche Bäume mit ihren roten und weißen Blüten unsere Blicke auf sich. Die Blüten selbst aber leider waren duftlos. Doch gab es Blumen in Hülle und Fülle, die nicht nur das Auge erfreuten, sondern auch lieblich dufteten. Selbst die »Königin der Nacht«, eine Blume die nur alle sieben Jahre blüht, war dort anzutreffen. Eine Fülle von Hyazinthen und Krokussen bedeckte stellenweise ganze Felsabhänge. Wald und Feld war belebt mit Vögeln, die unser Auge nie gesehen; in den höchsten Lüften schwebte der Aasgeier. Schwärme wilder Enten zogen vom Festland einer der vielen Inseln zu, in solcher Menge, dass ihre Zahl hoch in die Tausende ging. Die herrlichen Schmetterlinge, die blitzenden Käfer, die sonnige warme, fast heiße Luft, das alles trug dazu bei, in uns ein wonniges Gefühl, eine freudige Stimmung zu erwecken. Waren wir doch aus dem winterlichen Deutschland gekommen, um nun auf so einem wunderbar schönen Fleck Erde zu landen, das wahrhaft paradiesisch genannt werden musste. Rosen- und Kaktushecken umgaben hier die Gärten. Auf der Landungsbrücke stand eine Schar halbwüchsige Burschen zum Gepäck tragen. Die Kinder, meist Negerkinder, waren nur notdürftig gekleidet, und bettelten darum, unser Gepäck tragen zu dürfen, in Erwartung eines Trinkgeldes.

Mein Gepäck brauchte ich jedoch diesen Burschen nicht anzuvertrauen, denn gleich nach der Zollrevision legte ein kleiner Flussdampfer an, der uns an Bord nahm, und uns dem Städtchen Joinville zuführte. Joinville liegt etwa 2 Stunden landeinwärts am Cachoeiroflusse(?) zählte damals etwa 1000 Einwohner. In Joinville wurden wir zum Einwandererhaus geführt, wo wir drei Tage verbleiben mussten. 

(p.2) Inzwischen rekognoszierten wir die Umgebung, ließen uns von den Bewohnern erzählen, dass hier vor 50 Jahren noch ebenso hohe, stattliche Bäume gestanden hatten, wie heute der Urwald sie noch aufweist. Wir sahen mit Staunen und Bewunderung diese Gegend; die kleinen, friedlichen Häuser der geringen Leute, die Einfachheit ihrer Lebensweise. Hier kannte man keine Sorge für den Winter, hier brauchte man keine Keller für Kartoffeln, keine Dachböden, keine Scheunen für Heu und Stroh. Die Kartoffeln und sämtliches Gemüse wurden stets frisch aus dem Garten geholt; das Vieh konnte sich stets draußen ernähren. Wir bewunderten die elegante, glänzende Einrichtung der Rasier- und Haarschneidesalons die Geschäftshäuser, in denen alle möglichen Waren feilgeboten wurden, den großen gewaltigen Vorrat an Eisenwaren, meist westfälischer Fabrikate mit dem Firmenstempel: H. Forster, Hagen i.W.

Es war der 8. Dezember 1899, am Feste Mariä Empfängnis, als gegen 10:00 Uhr morgens unsere Karawane, bestehend aus etwa zehn Familien und zwölf jungen Leuten, sich nach der Hansa zu in Bewegung setzte. Um 8:00 Uhr morgens begab ich mich in Begleitung eines jungen Bayern zur katholischen Kirche, um der heiligen Messe beizuwohnen. Die Kirche aber war leer. Wir verließen dieselbe, und wandten uns dem Pfarrhof zu, dort zu fragen, wann die Messe beginnen würde. Der ehrwürdige Pfarrer Bürgershausen empfing uns in sehr freundlicher Weise und gab uns manchen gut Rat, ermahnte uns, auszuhalten in der neuen Heimat des Urwaldes; er würde auch kommen, die dortigen Katholiken zu besuchen, um auch bei ihnen das heilige Opfer darzubringen, und die Sakramente zu spenden. Wir würden zu weit kommen, um am Sonntag der heiligen Messe beizuwohnen; wir sollten aber doch den Sonntag feiern, uns mit ihm im Geiste vereinigen am Sonntag, wenn um 9:00 Uhr das heilige Meßopfer dargebracht würde. Wir könnten uns auch auf diese Weise der Gnade des Heiligen Opfers teilhaftig werden. Wenn dann Weihnachten kommt, schloss der alte Herr, wo in diesem Jahr drei Feiertage sind, dann kommt wieder nach hier, besucht euren Herrgott, besucht mich, erzählt mir wie es euch geht, und ob ihr Glaubensgenossen gefunden habt. Wenn von Seiten der Hansa Gesellschaft der Vertrag nicht immer eingehalten wird, sagt es mir, mir dem Vertrauensmann des »Sankt Raphael Vereins«.

(p.3) Dann entließ er uns mit vielen Segenswünschen begleitet. Froh einen Freund und Beschützer in diesem hohen Herrn gefunden zu haben, schieden wir.

Mittlerweile war es 9:00 Uhr geworden, und die heilige Messe begann. Wie war ich enttäuscht, so wenig Menschen in dem zwar kleinen, aber doch schönen Gotteshauses zu finden. Ich hatte erwartet am Feste der Himmelskönigin, und bei diesem herrlichen Wetter, das Kirchlein voller Andächtigen zu sehen, aber kaum waren 40 Personen anwesend. Ich sah Mütter mit dem kleinsten Kind auf dem Arm, in der anderen Hand das Gebetbuch haltend.

Das heilige Opfer begann, wir aber konnten dem selben nicht bis zu Ende beiwohnen, da wir uns beeilen mussten, der schon vorausgezogenen Karawane zu folgen.

Der erste Abend unseres Marschtages brachte uns zur Behausung eines unserer Fuhrleute, der neben seinem Fuhrgeschäft auch noch Gastwirtschaft betrieb, mit großer Branntweinbrauerei. Wir betrachteten neugierig die eigentümlichen, manchmal sehr primitiven Anlagen, wie sie für jene Gegend zweckmäßig waren. Der Hof war sauber, und reichlich mit allem versehen, was ein Landwirt in jenen Gegenden braucht. Das Ganze zeugte von großer Wohlhabenheit. Eine Anzahl Kühe gingen auf der Weide, viele Hühner und Gänseblümchen durcheinander, auch war die große und hübsche türkische Ente vertreten. Hier sahen wir den ersten brasilianischen Affen, der an einer dünnen langen Kette allerlei Kurzweil trieb. Ein Käfig wies verschiedene brasilianische Vögel auf. Apfelsinen- und Bananenbäume standen ringsherum. Ein großer Haufen Zuckerrohr harrte seiner Verwandlung in Branntwein. Das Haus selbst war geräumig und sauber.

Hier war unser Rasttag, hier erhielten wir auf Kosten der Hansa Gesellschaft Essen, Trinken und freies Nachtquartier.

Der Abend des zweiten Marschtages brachte uns zu einer jüdischen Gastwirtschaft. Auch hier zeugte alles von großer Wohlhabenheit. Besonders herrlich war eine Allee von Kaffeebäumen, die auf eine Kaffeeplantage hinausführte. In dieser Allee lagen Tausende und Millionen von Kaffeebohnen, und ebenso viele junge Kaffeepflanzen wuchsen wild empor.

Der dritte Marschtag brachte uns zum Urwald, unserem Bestimmungsort.

(p.4) Am Nachmittage fanden wir uns alle im Einwandererhaus des Stadtplatzes »Humboldt« zusammen. Hier hörte die freie Verpflegung auf, wir waren auf unsere eigene Tasche angewiesen.

Es würde zu weit führen, all die Eindrücke zu beschreiben, welche die neue Umgebung auf mich machte. Ich könnte erzählen von den Brücken- Wege- und Häuserbauten. Unendlich viel könnte ich auch erzählen vom Urwald mit seinen Bewohnern, dem Ameisenbär, den Gürteltieren, dem wilden Schwein, den Rehen, den Hasen, den Affen, den Papageien, dem Kakadu, dem Colibri, dem Spottvogel, den Schmetterlingen, den Käfern, den Schwimmpflanzen und den mächtigen Urwaldbäumen. Wunderbar herrliche Nächte sah ich, mit dem strahlenden Sternhimmel, und das Kreuz des Südens. Doch kann ich sie nicht der Wahrheit gemäß schildern; so etwas muss man sehen, selbst genießen, dann kommt uns ein Schimmer von der unendlichen Allmacht Gottes, der das ganze Weltall in seinen Bahnen lenkt.

Am nächsten Tage wurden uns unsere Grundstücke überwiesen. Ich bekam Grundstück No. 92. Außer dem Stempel (40 Pfg.) brauchten wir keine Anzahlung zu leisten, sondern konnten den Preis, sechs Mark pro Morgen, durch Wegebauten abverdienen. Diese Einrichtung kam besonders den Minderbemittelten gut zu statten, und manches Anwesen ist auf diese Weise ohne viel Kosten gegründet worden. Eine große Anzahl der Einwanderer waren Fabrikarbeiter, die mit Axt und Säge, Hacke und Spaten nicht umgehen konnten, die auch bald in der Erkenntnis, dass der Urwald für sie kein Arbeitsfeld war, nach einigen Tagen wieder abzogen. Mein Landsmann aus Lüdenscheid nahm das Grundstück neben mir, wir waren also Nachbarn geworden. Unsere Grundstücke waren 115 Morgen, mit 200 m Straßenfront.

Die ersten Tage bearbeitete ich mein Grundstück mit Lust und Liebe, zumal ich sah, wie eine Nachbarsfrau Erbsen, Mohrrüben und Küchenkräuter zog, die im Geschmack nichts zu wünschen übrig ließen. Bald aber erlahmte mein Eifer, denn ich sah mit Schrecken meine geringe Barschaft zusammenschmelzen. Die Löhne auf der Hansa waren äußerst niedrig. Deshalb entschloss ich mich, mein Grundstück einstweilen zu verlassen und in der Stadt Joinville mich nach einer lohnenden Beschäftigung um zu sehen.

(p.5) Mein Landsmann aus Lüdenscheid, dem ich meinen Entschluss mitteilte, wollte von einer Abwanderung nichts wissen. Er hatte es im Grunde genommen auch gar nicht nötig, denn ein Kapital von 3000 Mark sicherte ihm wohlauf sein Einkommen, bis sein Grundstück ertragreich wurde.

Doch als ich im Einwandererhause meine wenigen Sachen zur Abreise ordnete, erschien auch er, und erklärte, mitzugehen. Über diesen Entschluss freute ich mich sehr, und traten am anderen Morgen unsere Rückreise an.

Mein Landsmann meinte, wir wollten die große Heerstraße möglichst vermeiden, und unseren Weg links durch den Urwald nehmen, um auch hier mal die Bodenverhältnisse kennen zu lernen. Doch wurden wir den ersten Tag gehalten, der Heerstraße zu folgen, bis wir bei einem Ansiedler »Adam« vorsprachen, der uns für die Nacht Herberge gab. Herr Adam betrieb neben seiner Landwirtschaft noch Hausindustrie, er verfertigte Knöpfe. Wir fanden in unserem Wirt einen freundlichen, zufriedenen Mann, der uns riet, das Land am Schröderflusse aufzusuchen. Dort sei sehr guter Boden, die Verbindung zur Stadt betrage nur eine Tagereise. Ein rüstiger Fußgänger, der jeden Weg und Steg kenne, würde in 8-9 Stunden die Stadt erreichen. Der Boden am Schröderflusse sei außerordentlich fruchtbar, die Wälder beherbergen viel wertvolles Holz, die Gegend selbst sei aber nur wenig besiedelt. Bei Herrn Adam sahen wir den ersten brasilianischen Reis, der an Güte den indischen übertreffen soll.

Am anderen Morgen bei Zeiten verabschiedeten wir uns von unserem freundlichen Wirt, und schlugen den Weg nach dem Schröderflusse ein. Bald umfing uns der Urwald, aber erst nach 3 Stunden sahen wir die erste Ansiedlung vor uns liegen. Es war die Ansiedlung eines Pommern, der sich hier in dieser Einsamkeit ein großes Anwesen, mit praktischen Stallungen und schönen Wohnräumen geschaffen hatte. Selbst ein unterirdischer Keller fehlte nicht, der eine angenehme Kühle hatte und als Lagerraum für Branntwein diente. Hier konnten wir uns laben an kühler Milch, Käse und Butter. Wir erhielten eine rein europäische Kost, worüber wir nicht wenig erstaunten. Er gab uns Aufklärung über seine Betriebsweise. Hier lernten wir in kurzer Zeit mehr, als man aus Büchern schöpfen kann. Wir mussten die Ausdauer und Energie bewundern, mit der dieser Mann gearbeitet hatte. Als gänzlich mittelloser Bursche war er nach Brasilien gekommen und hatte durch harte Arbeit seine jetzige Existenz geschaffen.

(p.6) Mit bestem Dank verabschiedeten wir uns von diesem Pommern, und gelangten bald an den Schröderfluss, wo wir eine Negerniederlassung fanden. Der Neger versah den Fährdienst. Die Besitzung des Negers zeigte eine höchst primitive Einrichtung. Schon von weitem erkennt man eine Negeransiedlung von der Ansiedlung eines Deutschen. Während der Neger sein Wohnhaus meist aus Palisaden erbaut, umgibt sich der Deutsche mit einem gewissen Luxus, erbaut bessere Häuser, versieht sie mit Wänden, und errichtet seine Stallungen abseits vom Wohnhaus.

Diese Negeransiedlung musste auf sehr fruchtbaren Boden stehen, wir sahen Maisstängel, die haushoch waren, und 2-3 Maiskolben enthielten. Zuckerrohr war von solch starken Wuchse, wie wir ihn nur unter dem Äquator gefunden hatten.

Dieser Neger verstand kein Deutsch. Dort konnten wir uns insoweit verständigen, dass wir über den Fluss wollten; der Milreis-Schein, den wir ihm zeigten, ersetzte unsere wenigen Kenntnisse der brasilianischen Sprache. Nachdem wir über gesetzt waren, ging der Weg durch überaus üppigen Urwald, der fleißiger Ansiedler harrte, und ein gutes Auskommen versprach. Nach etwa 2 Stunden kamen wir wieder zu einem Pommern, dessen Besitztum ebenfalls nichts zu wünschen übrigließ. Auch hier fanden wir die denkbar beste Aufnahme, konnten uns aber nicht mehr lange aufhalten, da wir noch vor Dunkelheit die Heerstraße wieder erreichen wollten. Es gelang uns auch. Aber kaum hatten wir die Heerstraße erreicht, als auch schon die Dunkelheit mit südlicher Plötzlichkeit hereinbrach. Nach kaum einer halben Stunde konnten wir einander nicht mehr sehen. Es wurde stockfinster, wir hatten Mühe uns mitten auf dem Wege zu halten, und mussten uns manchmal mit unseren Stöcken orientieren, wo wir standen.

Die Dunkelheit brachte aber auch eine gänzliche Umwandlung hervor; der Gesang der Vögel wich dem Rufen des Hammerfrosches. Die Nachttiere wurden lebendig, eine Masse von rot leuchtenden Würmchen zeigte sich urplötzlich. Jeder Baum, jeder Strauch und jedes Blatt, ja selbst unsere Kleider, unsere Haare, Fingerspitzen und Augen Wimpern wurden von diesem Würmchen besetzt.

(p.7) Alles, die ganze Luft erfüllte sich mit diesen kleinen blinkenden Kennzeichen; es war als ob der Sternenhimmel mit seinen Millionen Sternen, als ob die ganze Milchstraße sich auf diese Erde nieder gesenkt habe, und all die kleinen Sterne wie Schneeflocken durcheinanderwirbelten. Ein erhabenes Schauspiel, ein Wunder der Allmacht Gottes, der auch die Bahnen jedes dieser kleinen Käferchen lenkt. Wer in einer solch milden Nacht gewandert ist, fern im Süden, dem wird sie sicher nicht aus dem Gedächtnis verschwinden. Endlich gegen 12:00 Uhr nachts erreichten wir eine Herberge, wo wir auf einem Lager von Seegras einschliefen.

Am nächsten Morgen traten wir unsere Weiterreise an, und kamen am Nachmittag nach Joinville. Wir verschaffen uns erst ein sicheres Unterkommen im Gasthof »Schoßland«, gegen tägliche Bezahlung von zwei Milreis (1,50 Mk.).

Einige Tage später trennten sich unsere Wege, mein Landsmann ließ Weib und Kind kommen, zog nach Annaburg, 2 Stunden von Joinville. Von Annaburg aus kaufte er sich in jenen gesegneten Gegenden des Schröderflusses an, und zog später ganz nach seinem neuen Besitztum. Für mich entstand nun die Frage, wie und wo ich lohnende Beschäftigung finden konnte.

Inzwischen rückte das Weihnachtsgeschäft immer näher heran, und noch immer fand ich keine passende Arbeit, dachte schon, mir wird wohl dies Jahr kein Christbaum leuchten. Doch Gottes Vaterhuld waltet auch über dem Einsamen. Obgleich mit mir selbst unzufrieden, erging es mir doch noch immer leidlich gut, nur dass ich sehen musste, wie meine geringe Barschaft immer mehr zusammenschmolz.

Es war am Samstag vor Weihnachten, als mir einfiel, einmal einen brasilianischen Bienenstand, da mich die Bienenzucht sehr interessiert, zu besichtigen. Auf meine Erkundigungen sagte mir mein Wirt, Herr Kinder habe Bienen und wohne etwas abseits des Städtchens. Ich machte mich auf die Suche und fand dessen Besitzung nach etwa ¾ Stunden, unterschied sich in nichts von all den anderen, nur fiel es mir auf, dass eine so große Anzahl Kutschwagen auf dem Hofe standen, und dass so viel sonntäglich gekleidete Menschen, meist Männer anwesend waren. Zuerst dachte ich an eine Hochzeitsgesellschaft, doch fehlte jene laute Fröhlichkeit, die bei Hochzeiten in der Regel üblich ist. Auch fehlte aller äußere Schmuck für solche Feier.

Ich getraute mich nicht einzutreten, als zwei der mir zunächst stehenden Männer, welche in ihren Sonntagskleidern einen gutmütigen Eindruck machten, auf mich zu kamen, und mich freundlich nötigten, näher zu treten. Sie reichten mir zum Willkommen die Hand, und alle Anwesenden taten dasselbe, und sprachen freundlich mit mir.

(p.8) Fast wurde ich gerührt, bei all den Beweisen der Güte und Zuvorkommenheit dieser Leute, die mich doch noch nie vorhergesehen hatten. Auf meine Frage nach Herrn  Kinder dauerte es nicht lange, bis ich mit Herrn Kinder bekannt gemacht wurde. Auch er war freundlich, reichte mir die Hand, ohne ein Wort zu sagen. Dann zeigte er mit der Hand nach seinem Hund, und ich verstand dieses Zeichen: Der Mann, Herr Kinder, war stumm.

Mein Staunen wuchs nun von Minute zu Minute, da ich mir die Anwesenheit der vielen sonntäglichen gekleideten Leute nicht erklären konnte. Es kam mir vor, als ob ich der Liebling aller geworden sei. Eine Frage zu tun getraute ich nicht, bis mir endlich wieder der Zweck meines Besuches einfiel. Deshalb wandte ich mich an Herrn Kinder mit der Bitte, seine Bienen mal besichtigen zu dürfen. Sofort wurde ich nach dem Bienenstand geführt, von mehr als 20 Personen begleitet. Wir hatten uns etwa ¼ Stunde über Bienen unterhalten, als einer der Herren sagte: »Wir müssen anfangen, kommen Sie«. Extra zu mir gewendet fügte er hinzu: »Sie sind heute wohl zum ersten Male hier, deshalb will ich Sie führen«. Ich wurde vollständig verwirrt, konnte nur die Frage hinwerfen: »Was ist denn hier eigentlich los, ich bin hier fremd«. Eine Antwort erhielt ich nicht, aber staunend betrachteten mich die Anwesenden; dann entschuldigte sich der Sprecher wegen der Belästigung, die er mir gemacht habe, ich solle gütigst entschuldigen, solle mich noch verweilen, in 1 Stunde stehe er wieder zu meinen Diensten. Und alle der Reihe nach, die mit mir gesprochen hatten, kamen und entschuldigten sich ob des Irrtums und versicherten mich ihres Wohlwollens. Ich wurde noch viel verwirrter und wusste kein Wort hervorzubringen. Einer solchen Zuvorkommenheit, gepaart mit solch herzlicher Liebe und solchem Wohlwollen, war ich noch nie begegnet.

Die Leute gingen in die anstoßenden Gebäude durch ein großes Scheunentor. Während ich noch darüber nachdachte, was dies alles hier zu bedeuten habe, hörte ich einen Kirchengesang. Da wurde wir mit einem Schlag klar, dass ein Gottesdienst stattfand. Aber auf einem Samstag konnten nur Juden Gottesdienst halten. Aber Juden waren es nicht, ihr Aussehen sprach dagegen.

In dieser Unwissenheit, was für ein Gottesdienst stattfand, entfernte ich mich; ich muss gestehen, mit ziemlich enttäuschten Hoffnungen. Ich war mit mir selbst unzufrieden, und konnte doch nicht recht sagen, warum.

Wie ich so meines Weges zog und darüber nachdachte, was doch unser Herrgott so verschiedene Kostgänger hält, hörte ich plötzlich meinen Namen rufen. Wie vom Blitz getroffen flog ich herum, und starte einen Moment den Rufer an, bis dieser wieder so schnell im nächsten Hause verschwand, wie er gekommen war.

(p.9) Ich hörte noch, wie er einen anderen Herrn anrief, mit den Worten: »Herr Hauptmann, Herr Hauptmann, hier ist schon wieder einer von der Hansa«.

Ich hatte kaum Zeit über diesen sonderbaren Vorfall nachzudenken, als auch schon ein älterer, aber sehr stattlicher Herr erschien, und mich mit den Worten anredete: »Wie ich von dem Friedrich höre, kommen sie von der Hansa«. »Ich war dort«, entgegnete ich, »doch bin ich schon einige Zeit zurück, und komme jetzt eben von einem Ausflug.« »Wo waren Sie denn jetzt hier?« fragte der Hauptmann, worauf ich erwiderte: »Ich war bei Kinder«. »Ach so, bei Kinder waren sie, dann gehören sie auch wohl zu den Herrnhutern?«. »Herrnhuter?« fragte ich, »Tun denn die auf einen Samstag Kirche? Es waren viele Leute dort, die dort Gottesdienst abhielten«. »Ei freilich«, sprach der Hauptmann, »diese Leute machen den Samstag zum Sonntag, aber wenn Sie kein Herrnhuter sind, was sind Sie denn, und was taten Sie bei Kinder?«. »Ich bin katholisch« entgegnete ich, und habe mir bei Kinder die Bienen sehen wollen«. »Ah«, rief der Hauptmann im Tone der Begeisterung, »Sie haben Spaß an Bienen, ich habe auch Bienen, dann können Sie meine Bienen auch mal besehen, dann kommen Sie mal herein«. Ich schwankte, ob ich der Einladung folgen sollte, doch der Hauptmann nötigte mich zum Eintreten.

So gingen wir dann in den Hof, gefolgt von dem Friedrich, der meinen Namen gerufen hatte. Dieser Friedrich war ein Reisegefährte der „Guayaba“ gewesen, der es auf der Hansa nur einen Tag ausgehalten hatte, und schon frühzeitig nach Joinville zurückgekehrt in die Dienste des Herrn Hauptmann getreten war.

Dieser Moment war die Stunde, wo ich den Gefahren der Fremde entrissen wurde, und unter dem gastlichen Dache dieses Herrn Hauptmann eine zweite Heimat finden sollte. Mit der Zeit wurde ich wie eins seiner Kinder gehalten, und gleich diesen durfte ich am Familientisch sitzen.

Der Hauptmann war eine große stattliche Erscheinung mit langem weißem Bart, festem und sicherem Auftreten, kühnem Blick; sein ganzes Äußeres verriet sofort den gedienten Militär. Als ich ihm sagte, dass ich auch Soldat gewesen, wurde er hoch erfreut, und meinte solche Freude habe er doch lange nicht gehabt, einmal einen wirklich gedienten Soldaten zu begegnen. Er begann zu erzählen von 70/71, wo er als aktiver Hauptmann eine Kompanie, zeitweise ein Bataillon geführt habe. Dann kamen zwei kleine Mädchen angesprungen, die er mir als seine Kinder »Hedwig und Dora« vorstellte; desgleichen auch Frau Hauptmann, die uns allesamt zum Essen einlud. Ich wollte ablehnen, doch musste ich mit essen. Das Essen verlief unter sehr angeregtem Gespräch, und wurde ich nebenbei auch mit den anderen Kindern des Hauptmanns bekannt.

(p.10) Die älteste Tochter besorgte mit der Mutter das Hauswesen, während die zweite Tochter fürs Vieh sorgte. Ein weiteres Mädchen, eine Negerin, war zur Aushilfe im Garten tätig. Ein 17-jähriger Sohn erlernte das Schreinerhandwerk, ein 16-jähriger erlernte die Kaufmannschaft.

Frau Hauptmann war eine gutmütige, herzensgute Mutter, und behandelte mich von Anfang an ganz mütterlich. Ich fühlte mich auch wirklich zu dieser Familie hingezogen. Die ungezwungene, gegenseitige Aussprache hatte uns rasch einander nähergebracht, sodass mir der Hauptmann nach Tisch das Anerbieten machte, zu ihm zu kommen. Ich nahm diese Einladung mit bestem Dank an, und wollte nach den Feiertagen zu ihm hinziehen. »Warum nicht gleich?« meinte der Hauptmann: »Sie sparen doch während der Feiertage das Kostgeld, holen sie nur sofort ihre Sachen herüber, ich richte ihnen während der Zeit ein Zimmer ein.« Ich wollte mich entschuldigen mit dem Bemerken, dass noch Feiertage seien, und ich ihm während dieser Tage nicht zur Last liegen wolle, oder ich wolle ihm für die drei Tage kostet Geld zahlen. Darauf ließ sich der Hauptmann nicht ein, sondern bestand auf sofortiges Einquartieren, Kostgeld könne ich sparen, er könne mir ja auch keinen Lohn geben, da er ja den Friedrich schon habe; ich solle ihm nach den Feiertagen arbeiten helfen, bis ich gute passende Beschäftigung gefunden habe. So kam es denn, dass ich noch am selben Tag mein Quartier bei Schoßland aufgab. Der Hauptmann wollte mir Pferd und Wagen mitgeben, meine Sachen zu holen. Doch konnte ich dieses Anerbieten ruhig ablehnen, hatte ich doch alle überflüssigen Sachen droben im Urwald verkauft, und verblieb mir nur das Allernotwendigste. Es erging mir, wie es jedem ehrlichen deutschen Handwerksburschen ergeht, ich konnte meine Sachen im Rucksack bequem tragen.

Am Nachmittag desselben Tages war ich im Hause des Herrn Hauptmann »von Altrock« einquartiert, und richtete mich auf dem mir zugewiesenen Zimmer ein. Das Zimmer enthielt drei Betten, eins für den ältesten Sohn des Hauptmanns, das zweite für Friedrich und das dritte für mich. Die Betten waren höchst einfach; anstelle der Matratzen waren gespaltene Rohrstäbe gelegt, darauf lag ein Strohsack mit Seegras. Wer sich darauf legte, hatte das Gefühl in einem wirklichen Matratzenbett zu schlafen. Die Rohrstäbe federten wie Matratzenbetten. Eine leichte Decke vervollständigte das Bett.<

(p.11) Während um die Weihnachtszeit die Natur in Deutschland in Schnee und Eis erstarrt ist, ist in Brasilien der Hochsommer, alles steht in schönster Blüte; es ist die heiße Jahreszeit, wo selbst das Quellwasser warm schmeckt.

Warm war auch der Tag gewesen, als ich beim Hauptmann einzog, und warm war auch der Abend, der uns ins Freie lockte, wo wir unter den lästigen Stichen der Moskiten zu leiden hatten. Ich konnte schließlich vor lauter Stichen draußen nicht mehr aushalten, weshalb mich der Hauptmann ins Gästezimmer führte, wo diese Stechmücken nicht hinkonnten. Frau Hauptmann gesellte sich zu uns, und wir unterhielten uns bis spät in die Nacht, sodass der Hauptmann schließlich meinte: »Jetzt wollen wir aber doch schlafen gehen, denn in Deutschland stehen die Menschen schon wieder auf«; der Zeitunterschied zwischen Brasilien und Deutschland beträgt sechs Stunden; wir haben jetzt bei Mitternacht, und in Deutschland ist es jetzt bald 6:00 Uhr morgens.

Dies war die erste sorgenfreie Nacht, wo ich mir sagen konnte, das Leben kostet dir kein Geld mehr; ein Umstand den ich nicht unterschätzen durfte. Froh und zufrieden schlief ich ein, nachdem ich dem Vater im Himmel gedankt hatte, dass er mich in dieses gastliche Haus geführt.

Mein Schlaf musste fest gewesen sein, denn als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, fand ich die Betten meiner Mitschläfer leer; sie waren aufgestanden, ohne dass ich etwas gemerkt hatte. Die Sonne leuchtete bereits in mein Schlafgemach, und vergoldete mit ihrem Strahl die wenigen primitiven Möbel. Von draußen her drangen das Gegacker der Hühner, und das Gekrächze einiger mir unbekannter Vögel zu mir herauf.

Wie ich meine Augen im Gemache rückwärts wende, erblicke ich im Fensterrahmen einen Papagei sitzen, der mich mit neugierigen Augen anblickte und sich wohl über den Langschläfer wundern mochte. Zugleich entdecke ich eine Kolonie Ameisen, von der Größe und dem Wuchs unserer Waldameise. Hie und da bemerkte ich auch Ameisen, die doppelt so groß waren. Sie marschierten am Fensterrahmen entlang, ohne den Papagei zu belästigen, quer am Balken über meinem Haupte zur Türöffnung hinaus. Mit dem größten Interesse betrachtete ich das Treiben dieser kleinen Tiere; jede Ameise trug ein Ei im Rüssel, und wunderte mich über die Intelligenz dieser Tiere, als ich plötzlich mit einem »Guten Morgen« aus meinem Grübeln aufgeschreckt wurde. Ich wandte den Kopf nach der Türöffnung, in dem ich ebenfalls mit einem »Guten Morgen« antwortete. Ich hatte den Hauptmann, oder sonst jemanden zu sehen erwartet, doch sah ich niemanden, nur der Papagei saß ruhig in seinem Fensterrahmen.

(p.12) Niemand ließ sich sehen, und keinen Laut vernahm ich, als das leise Krabbeln der marschierenden Ameisen. Zu hunderten, ja zu tausenden waren diese nun schon über meinem Haupte weg marschiert. Ihre Reisen wurden nicht schwächer, im Gegenteil schien als ob der Vorbeimarsch stärker, und mit noch größerer Hast betrieben würde. Es schien mir ein Rätsel, wo all die vielen Ameisen wohl hergekommen, und wo sie wohl hin wollten. Die Tiere mussten unzweifelhaft auf einer Auswanderung begriffen sein, da alle ein Ameisenei im Rüssel trugen. Durch einen Spalt konnte ich beobachten, wie der Zug am Gebälk entlang zu ebener Erde ging. Diese Ameisen aber trugen keine Eier, schienen auch nicht so geschlossen zu marschieren, sondern es kam mir vor, als ob sie auf der Suche nach etwas waren. Um diese Tiere besser beobachten zu können, richtete ich mich im Bett auf, und fühlte etwas Feuchtes, und wie ich nachsehe, erblicke ich zu meiner größten Überraschung unter meiner Bettdecke tausende von frischen Ameiseneiern, wohl geordnet und nebeneinanderliegend. Mit einem Satz war ich aus dem Bett und dachte: Eine schöne Bescherung, Ameisen im Bett.

Der Papagei mochte wohl meine Gedanken verraten und nickte dazu. Dann schüttelte er sein Gefieder unter beständigem Kopfnicken und tat, als ob er mich auslachen wollte. Dieses höhnische Gebaren von Seiten des Vogels ärgerte mich. Ich wollte ihn greifen, aber blitzschnell drehte er sich um, und mit einem »guten Morgen« flog er davon. Der Papagei war es also gewesen, der mich an diesem Morgen mit menschlichen Lauten zuerst begrüßt hatte.

Dann kleidete ich mich an, aber immer das mir so ungewöhnliche, ja fast unfassliche Treiben der Ameisen beobachtend. Wie es in jenen Gegenden Sitte ist, ging auch ich sehr oft barfuß, doch da heute Sonntag war, und ich zur Kirche Stiefel tragen wollte, wollte ich zwar keine Strümpfe, aber wenigstens Stiefel anziehen. Gedacht, getan. Wie ich aber mit dem einen Bein etwas derbe in einen Stiefel hineinfahre, war es mir als ob ich in einen warmen Brei trete, zugleich quillt eine weiß braune Masse oben heraus. Ein Ruck und der Stiefel ist wieder aus, aber mein Fuß ist beschmiert mit einer flüssig klebrigen Masse, dazwischen gewahre ich Ameiseneier. Ich schüttete den Stiefel aus, und noch Hunderte von Ameiseneiern fielen heraus, die meisten freilich hatte ich zerquetscht.

(p.13) Nun war es mir klar, wo die noch immer über meinem Haupte marschierenden Ameisen ihre Eier abluden, fand es auch erklärlich, warum die zu ebener Erde marschierenden Ameisen keine Eier mehr trugen. In meinem Bett und in meinem Stiefel hatten sie ihre Lasten niedergelegt. Beim Morgenkaffee erzählte ich mein Erlebnis den Hausbewohnern, denen die Sache aber gar nicht so neu und komisch vorkam. Es war eben in jenen Gegenden ein Privileg der Wanderameisen, dass sie ab und zu in Wohnhäusern erschienen, um dort alles Ungeziefer zu vertilgen. Wo sie auf ihren Wanderzügen eintreffen, säubern sie das ganze Haus von allen schädlichen Käfern, und sämtlichem Ungeziefer. Nichts ist vor der Wanderameise sicher, selbst die hässliche Baratte(?), die nur am Abend ihren Schlupfwinkel verlässt, und fünfmal größer ist als eine Ameise, fällt ihr zum Opfer. Selbst nach Tagen, wenn die Ameisen längst wieder abgezogen sind, fällt allerlei getötetes Ungeziefer aus den Ritzen der Wände, ein Beweis wie gründlich die Ameisen ihre Säuberungsarbeit vollzogen haben. Das Haus ist vollständig rein von jeglichem Ungeziefer. Die Wanderameise sind nützliche Tiere, und ihrem Erscheinen wird kein Hindernis in den Weg gelegt. Nur von den Bienenständen müssen sie ferngehalten werden, weshalb auch sämtliche Bienenstände ringsum von Wasser umgeben sind.

Der Tag, es war der Sonntag vor dem Weihnachtsfest, fing an recht heiß zu werden, selbst beim Stehen im Freien quellte der Schweiß aus den Poren, bis gegen 9:00 Uhr die Seeluft einsetzte, die eine merkliche Abkühlung brachte.

Mittlerweile begab ich mich auf den Weg zur Kirche, wo um 9:00 Uhr das Hochamt stattfand. Die Kirche war, wie gewöhnlich recht wenig besucht von Andächtigen. Von dem Weihnachtsfest am nächsten Tage bemerkte man in der Kirche nichts. Wie bei uns daheim betrat der Priester den Altar, und wie dort bestieg er vor dem Credo die Kanzel, um hier aus einem dicken Buche eine 20 Minuten dauernde Vorlesung auf brasilianisch zu halten. Dann kam das Evangelium, zuerst in brasilianischer, dann in deutscher Sprache. Hierauf folgte eine halbstündige brasilianische Predigt, dann eine kurze Predigt deutscher Sprache; »bereitet den Weg des Herrn, macht eben seine Pfade«.

(p.14) Das war der Vorspruch des Predigers und hieran anschließend entrollte er das Bild des Lebens, wie der Herr die Herzen der Menschen sucht, aber so manche Herzen umstrickt sind von eitlem Weltgenuss, wie so wenig an das Ziel aller Menschen gedacht wird, wie aber der Herr immer und immer wieder anklopft an die menschlichen Herzen, wieder unermüdlich bemüht ist, die Herzen dem Ziel zuzuführen, dass er für sie gesetzt hat; da sollten doch die Menschen dem lieben Herrgott entgegenkommen, hören auf seine Ermahnungen, sie sollten doch seine strafende Hand fühlen, womit er sich mitunter Eingang in ihre Herzen schaffen will, sie sollten doch achten auf die Beweise seiner Güte, die seine himmlische Hand aus sendet. Wie am heutigen Tage ein jeder des morgigen Weihnachtsfestes gedenkt, so soll auch heute schon jeder daran denken, den göttlichen Heiland auch eine Weihnachtsgabe zu schenken. Er aber will nur das Herz des Menschen, mit all seinen Gedanken, all seinen Handlungen, und er will es heiligen und dem Ziele zu führen, für das er es bestimmt hat.

Der Priester predigte von Herzen einfach und schlicht, seine Worte drangen zum Herzen seiner Zuhörer. »Bereitet den Weg des Herrn, macht eben seine Pfade« mit diesen Worten schloss er die Predigt, die Hände segnend gegen das Volk gewandt. Dann wurde wie üblich das heilige Opfer fortgesetzt, und als die heilige Handlung beendet war, waren zwei Stunden verflossen.

In Schweiß gebadet kam ich im Hause des Herrn Hauptmann wieder an. Dieser hatte währenddessen mit Friedrich ein Tannenbäumchen ausgegraben, und waren die beiden eben daran, dasselbe mit all seinen Wurzeln in einen großen Kübel zu stellen. Es sollte unser Christbaum sein.

Nach dem Mittagessen halfen wir noch Verschiedenes zum Weihnachtsfeste ordnen, und der Herr Hauptmann entließ uns mit dem Bemerken, heute Abend um 8:00 Uhr zur Bescherung uns einzufinden.

(p.15) Am Nachmittag zog ein Gewitter herauf und ich hielt es für angebracht, mich einstweilen aufs Bett zu legen. Friedrich aber ging ins nahe Wirtshaus, um eine Flasche Alkoholfreies zu trinken. Der Friedrich hatte Geld genug, ich aber hatte fast nichts mehr und musste mich mit dem »ins Bett legen« begnügen.

Ich war eingeschlafen und hatte von dem Gewitter nicht viel gehört. Als ich aufstand, war es bereits 6:00 Uhr abends. Frau Hauptmann hatte den Kaffee für mich warm gestellt und trug noch obendrein selbst geerntete Bananen auf, so dass eine freundliche Vorahnung der Festtagsfeier in mir aufstieg.

Auch der sonst nicht im Hause wohnende zweite Sohn Rudolf hatte sich eingefunden, und vergnügte sich zusammen mit seinen kleinen Geschwistern an den drolligen Sprüngen eines Pudels.

Ich war neben dem Hause ins große Hoftor getreten und betrachtete die Straßenpassanten, welche teils eilig, teils langsam die Chaussee passierten. Unter anderem kam auch ein Mann vorbei, dessen Oberkörper wohl die Form eines verwachsenen Menschen zeigte, dessen Beine aber wie die eines fünfjährigen Kindes waren. Obwohl rasch in seinen Bewegungen, kam er doch nicht rasch weiter. Es war wirklich drollig anzusehen, wie dieser große Körperbau auf solch kleinem Untergestell fortbewegt wurde.

Dann sah ich den Friedrich aus der Kneipe kommen. Friedrich war stets lustig und guter Dinge, nie habe ich ihn verstimmt gesehen. Er hieß mit seinem vollen Namen Ludwig-Friedrich Hoffmann und war als Schwimmlehrer in Gehlsdorf tätig gewesen. Nach kurzer Unterhaltung traten wir in den Hof zurück, Friedrich versorgte den Maulesel mit Futter, und hantierte an dem Tier herum, als ob er sein Leben lang Fuhrknecht gewesen sei. Sein Lieblingsausdruck war stets: »Ich und die Mule gehören zusammen«, bis eines Tages der Maulesel von seiner Eselstücke Gebrauch machte, und dem Friedrich einen Schlag versetzte, dass er rückwärts hinfiel. Seit dieser Zeit bestand eine gewisse Verstimmung zwischen Friedrich und dem Maulesel.

Während sich nun Friedrich mit dem Maulesel beschäftigte und ich den Zuschauer gespielt hatte, war im besten Zimmer mit Eifer an dem Weihnachtsbaum geschafft worden, so dass Punkt 8:00 Uhr wir alle im Zimmer erscheinen konnten.

(p.16) Der Weihnachtsbaum bot mit seinen vielen Lichtern einen überaus hübschen Anblick, gar sinnreich dekoriert, brachen sich seine Strahlen an den Wänden, und warfen die schönsten Reflexe zurück. Die Krippe mit dem göttlichen Kind, Josef und Maria, die Hirten mit ihren Herden, alles gar sinnreich geordnet, verlieh dem Ganzen einen wunderschönen Anblick.

Unter dem Baum lagen wohl geordnete Geschenke für einen jeden. Auch ich war bedacht. Eine Hand voll Zigarren und ein Stück Torte machten mein Geschenk aus. Die Kinder des Hauptmanns hatten allerlei nützliche Sachen erhalten, und waren die kleinen Mädchen nicht wenig erstaunt, dass das Christkind ihre geheimen, nur den Eltern gegenüber ausgesprochenen Wünsche erraten hatte. Der Jubel dieser Kleinen war kaum zu bändigen.

Eine Anzahl Weihnachtslieder verherrlichte und bildete zugleich den Schluss dieser schönen Feier.

Die Kinder sollten zu Bett gebracht werden, und mit einem herzlichen »Gute Nacht« verließen diese das Zimmer. Ich wollte mich ebenfalls entfernen, doch hielt mich der Hauptmann zurück und erzählte mir vom Weihnachtsfest im Jahre 1870 vor dem Feinde. »Dort«, sagte er, »haben wir auch einen Weihnachtsbaum gemacht, aus den Bajonetten der Soldaten. Kreuz und quer zusammengebunden, markierten diese Bajonette den Weihnachtsbaum, einige Kerzenstummel gaben ihm den Glanz; und Lieder haben wir gesungen, gerade wie heute Abend. Die Bajonette aber, die den Weihnachtsbaum markiert hatten, wandten sich nach Verlauf von einer Stunde wieder todbringend dem Feinde zu«.

Es war spät geworden, als ich an diesem Abend mein Schlafgemach betrat. Noch lange lag ich wach in meinem Bette, und dachte über meine Lage nach. Noch vor zwei Tagen mutlos, mich mit dem Gedanken vertraut machend, dass mich wohl kein Christbaum dieses Jahr erfreuen würde, war ich heute Abend nicht nur Zuschauer einer Weihnachtsfeier gewesen, sondern meine Erwartung war weit übertroffen, ich war sogar beschenkt worden. War dieses nicht alles göttliche Fügung gewesen, mir die Herzen wildfremder Leute zu öffnen?

Wie konnte ich anders, als dem allgütigen Gott meinen innigen Dank zu zollen! Ich sah noch, wie der Mond sein fahles Licht durch die Scheiben des kleinen Fensters warf, als ich endlich einschlief.

(p.17) Weihnachtsmorgen! Schon in aller Frühe ertönten von den Kirchen die Glocken, fast ununterbrochen wurde geläutet. Wenn eine Glocke müde zu sein schien, wurde sie von anderen abgelöst. So läuteten die Glocken in den schönen Morgen hinein, sie läuteten zur Weihnachtsstimmung, und Weihnachtsstimmung klar auf allen Gesichtern. Selbst der Hauptmann konnte sich einer gewissen Rührung nicht enthalten, auch er ging heute zur Kirche, er war Protestant.

Es mochte kurz nach 8:00 Uhr sein, als ich mich auf den Weg zur katholischen Kirche machte. Eine ungewöhnliche Menge von Wagen, Reitern und Fußgängern auf der Straße, die alle dem Städtchen »Joinville« zugezogen. Hier und da gab‘s eine Verkehrsstockung, wenn zwei, die sich lange nicht gesehen hatten, sich trafen. Ihre Wagen hielten dann, und die Nachdrängenden mussten sehen, wie sie vorbeikamen. Eine solche Volksmenge, und eine solche Ansammlung von Farmern hatte ich in dem sonst so stillen Städtchen noch nicht erlebt. Im Zentrum des Städtchens war es fast lebensgefährlich. Alle Wirtschaften und viele Privathäuser waren mit Fremden voll besetzt. In der Nähe der Kirche besonders war es ein bewegtes buntes Leben.

Die katholische Kirche liegt auf einer grünen Anhöhe, von wo man eine schöne Aussicht genießt. Als ich eintrat, war die Kirche zu meinem großen Erstaunen gedrängt voll. Es herrschte eine fast erstickende Schwüle in dem kleinen Gotteshaus, trotzdem dass Türen und Fenster weit offenstanden. Jedem perlte der Schweiß von der Stirn. Die meisten waren unablässig beschäftigt, sich mit dem Taschentuch Kühlung zuzufächeln. Gebetet ist wohl nicht viel geworden, die Hitze war zu groß. Während einige wieder hinausgingen, kamen andere herein, es war ein ununterbrochenes Kommen und Gehen.

Das Hochamt begann mit der Aussetzung des Hochwürdigsten. Der Kirchenchor tat sein Bestes, während die Gläubigen fortgesetzt sich Kühlung zufächelten. Doch lag eine heilige Weihe über dem Ganzen, und wiegte die Herzen in Weihnachtsstimmung. Alle Augen waren auf den Altar gerichtet, wenn der Priester das heilige Kreuzzeichen schlug, taten alle Anwesenden dasselbe. Es war auch das Einzige, was sie in dieser Hitze tun konnten, dem Priester am Altar in seinen Handlungen zu folgen.

(p.18) Gepredigt wurde wieder auf brasilianisch und Deutsch. Da aber heute viele deutsche Kolonisten anwesend waren, war die brasilianische Predigt kurz, dafür aber die deutsche desto länger. »Fürchtet euch nicht«! An diesen Text des Evangeliums anknüpfend, verbreitete sich der Prediger über die Geburt Jesu; wie er die Hirten zuerst zu sich gerufen habe, und die bange geworden seien vor seiner himmlischen Erscheinung, sie beruhigen liess durch Engelsmund: »Fürchtet euch nicht«! Die Hirten waren die ersten Missionare, welche der Herr an seine Krippe rief, die in dem unscheinbaren Kind ihren Gott erkannten. Die Hirten wurden zuerst unter das israelitische Volk gesandt, zu verkünden die Geburt des Messias. Viele kamen und sah das Kind. Viele glaubten und viele glaubten nicht. Seit dieser Zeit hat der Herr stets seine Missionare ausgesandt in alle Welt, sowohl in die bevölkerten Städte, als auch zu den Heiden im Urwald. Alle will der göttliche Heiland an sich ziehen, alle sollen für ihn arbeiten. Jeder Mensch ist Missionar, entweder für das Gute oder das Böse. Der Familienvater ist Missionar in seiner Familie; nach seinem Charakter und seiner Tätigkeit gestaltet sich das Familienleben. Die Mutter ist Missionar in trauten Kreise ihrer Kinder. Die Worte der Eltern sitzen in den Herzen der Kinder treu und wahr. Sind die Eltern Missionare des Herrn, werden sie auch die Herzen der Kinder dem Herrn zuführen, und zugleich den Grund zu neuen Missionaren liegen, denn auch die Kinder sind Missionare im Kreise ihrer Altersgenossen. Aber auch der Farmer, vor allem der katholische Farmer, soll Missionar sein. Er soll sich anschließen an seine Glaubensgenossen, soll sich zusammentun droben im Urwald und soll katholische Schulen gründen. Diese Schulen sollen auch den Erwachsenen am Sonntag die Kirche ersetzen; sie sollen dort zusammenkommen, zu beten, sich mit dem Priester im Gebete zu vereinigen, der in der entfernten Kirche auch für sie das heilige Opfer darbringt. Ja, der Farmer, der Kolonist soll Missionar sein. Es bedarf manchmal nur einer guten Anregung und eine gute Sache kommt in Fluss. Ein gutes Wort zum guten Vorschlag tut oft Wunder. Und wenn sich Schwierigkeiten entgegenstellen, denkt an das Engels Wort: »Fürchtet euch nicht«!

(p.19) In diesem Sinne hatte der Priester etwa eine Viertelstunde gepredigt, als mir doch zu heiß wurde. Unablässig musste ich mein Taschentuch benutzen, um den nur so niederfließenden Schweiß wegzuwischen. Ich musste hinaus ins Freie. Eine riesige, fast unüberschaubare Menschenmenge hatte sich um die Kirche gelagert, weiße und schwarze Menschen.

Ja, heute waren die Kolonisten weit hergekommen, von San Bento herunter 120 km weit, von Beckelbron, von Brüdertal, von der Hansa, von Annaburg, ja selbst aus dem weitesten Hinterlande waren sie da, Leute die eine volle Woche brauchten, ehe sie wieder zu Hause waren. Alle diese Menschen waren Kinder einer Pfarrei. Das Weihnachtsfest hatte sie hergeführt, teilzunehmen an der kirchlichen Feier. Ihr alltägliches Leben bekommt alljährlich einen Denkstein(?) durch das Weihnachtsfest.

Es war eine großartige Kundgebung katholischen Lebens; durchwegs Deutsche waren es, die hier zusammengekommen waren, um ihrem Herrgott ihren Tribut zu zollen. Und alle diese Menschen, die Tagereisen weit im Urwald wohnten, und sonst nicht viel vom Lärm der Welt gewahr wurden, waren Kinder der große Pfarrei „Joinville“. Sie alle hatte der einzige Pfarrer „Bürgershausen“ zu besuchen in ihrer Waldeinsamkeit, ihnen allen musste er den Trost im letzten Todeskampfe bringen.

Aber heute waren sie gekommen, vielfach mit Frau und Kindern; sie kamen aber nicht mit leeren Händen. Als der Collektenteller ging, kamen ganz erhebliche Summen zusammen.

Nach beendigtem Hochamt trieb der ganze Menschenstrom der Stadt zu. Ein ungemein lebhaftes Treiben entwickelte sich auf der sonst so stillen Straße. Viele der Waldbewohner hatten eine Menge Häute und Wildfelle mitgebracht, die jetzt an die Gerbereien verkauft wurden. Viele Menschen selbst waren durchweg kräftige Gestalten, denen man den Urwaldbewohner direkt ansehen konnte. Viele besuchten vor ihrer Abreise den Herrn Pfarrer. Man kann ruhig sagen: Die katholischen Urwaldbewohner sind treue Kinder ihrer Kirche. Nur schade, dass der Missionare so wenige sind. Die Pfarrei umfasst ein Gebiet so groß wie eine Diözese in Deutschland.

(p.20) Als ich im Haus des Hauptmanns wieder ankam, war der Hauptmann selbst von seinem Kirchgang zurückgekehrt, und meinte befriedigend: »So ein Kirchgang ab und zu ist doch eigentlich schön, es werden Jugenderinnerungen aufgefrischt«. Ja, Jugenderinnerungen mussten in dem alten Offizier aufgefrischt worden sein, fast den ganzen Nachmittag drehte sich das Gespräch um Weihnachtsbräuche.

Der zweite Weihnachtsfeiertag brachte schon mehr das gewöhnliche Sonntagsleben mit sich, obgleich auch an diesem Tage der Besuch des Gotteshauses noch sehr rege war, doch waren die meisten Fremden bereits wieder abgereist.

Am Nachmittag bot sich mir ein ungewohnter Anblick dar. Vor dem Hause des Herrn Hauptmann stehend gewahrte ich eine Gruppe Musikanten, mit Geige und Trommel. Einer trug eine kirchliche Fahne mit der Taube auf der Spitze. Vor einem der Häuser machte die kleine Schar halt. Die Instrumente wurden im Bewegung gesetzt und die Fahne geschwenkt. Dann sah ich die ganze Gesellschaft ins Haus treten. Nach 10 Minuten kamen alle wieder zum Vorschein und marschierten auf mich los! Ich dachte, im Hause des Herrn Hauptmann die eigentümliche Musikkapelle mir mal näher anzusehen. Doch sie gingen vorüber, und stellten sich vor dem nächsten Hause, einer Wirtschaft auf. Sobald ihr die Instrumente ertönten, herrschte eine Stille im Wirtshaus, eine ehrerbietige Stille, alles nahm die Kopfbedeckung ab. Der Wirt selbst erschien vor dem Hause und küsste die Taube auf der Fahne, worauf die ganze Gesellschaft ins Lokal trat, und dort einen eintönigen brasilianischen Gesang anstimmte. Dann sah ich, wie einer der Musikanten Gaben sammelte und sich bedankte, worauf die Musikanten weiterzogen, um beim nächsten Hause ebenso zu verfahren.

Obwohl der ganze Vorgang eigentlich gar nichts Anziehendes hatte, so fiel mir doch auf, dass beim Erscheinen der Musik in das Lokal die feierliche Stille eintrat, und der Wirt selbst herauskam, die Taube zu küssen.

(p.21) Hierüber erhielt ich vom einfacher folgende Auskunft: Die Musikanten sind Collektanten, das Mitführen von Trommel, Geige und Fahne soll einen feierlichen kirchlichen Eindruck machen, zugleich von vornherein anzeigen, dass die Gaben zu kirchlichen Zwecken gesammelt werden.

Später sah ich noch verschiedene Male solche Collektanten, aber immer das Haus des Herrn Hauptmann meidend, denn er war Protestant.

So hatte ich dann die Weihnachtstage unter dem geistlichen Dach des Herrn Hauptmann verlebt. Nun galt es, mich dafür erkenntlich zu zeigen. Deshalb bemühte ich mich ernstlich, ihn bei jeglicher Arbeit behilflich zu sein. Gar manches gibt es auf einem ländlichen Anwesen zu besorgen. Des Morgens fuhr der Herr Hauptmann selbst mit Milch und Eiern zur Stadt; er nahm ich mit, und so lernte ich bald das ganze Stadtgebiet kennen. Bald kannte ich die Metzger, die Bäcker, die Schmiede und die Warenhäuser sämtlich mit Namen. Manchen Handwerker besuchten wir, und ich lernte Joinville als ein Arbeiterstädtchen kennen.

Der Abend versammelten sich die Familiemitglieder unter der dichten Laube am Hause, wo der starke Geruch fremder, mir gänzlich unbekannter Blumen zu uns drang. Hier sah ich den ersten Baumwollstrauch, wie er seine Kapseln öffnete und den ganzen Strauch mit seiner Wolle bedeckte. Man konnte die Abende wirklich herrlich nennen.

An einem dieser Abende fragt mich der Hauptmann ob ich Geographie verstände, und ob ich zeichnen könne. Als ich ihm beides bejahte, sprach er: »Dann habe ich ein schönes Arbeitsfeld für Sie, Sie können die weitere Umgebung von Joinville aufnehmen, ich meine was man in Deutschland eine Landesaufnahme nennt, wonach die Manöverkarten gezeichnet werden«.

Ich mochte wohl ein sehr verblüfftes Gesicht gemacht haben, denn der Hauptmann fuhr fort: »Ich meine nun zwar nicht, dass sie jeden Berg abmessen sollen, denn zum Nivellieren gehören besondere Instrumente und auch Kenntnisse. Ich denke mir die Sache so: Sie nehmen Einsicht von meinem Kartenmaterial, und nehmen Abschrift davon. Mit dieser Abschrift gehen sie los, und vergleichen auf ihrer Wanderung, ob alles stimmt. Wo sie an einen Fluss kommen, stellen Sie fest ob der Fluss auf der Karte verzeichnet steht.

(p.22) Steht er darauf, dann ist es gut, steht er nicht darauf, so zeichnen sie ihn dorthin, wo sie ihn getroffen haben. Wir verzeichnen auch alle Brückenanlagen und wo ein Fährdienst besteht. Ferner soll die Karte enthalten, die Flächen, welche kultiviert sind, die Landstraßen, die Fußpfade und hauptsächlich alle menschlichen Ansiedlungen. Was meinen Sie, fühlen Sie sich der Aufgabe gewachsen?« Ich antwortete hierauf, die Sache ließe sich ja mal überlegen, ich würde zunächst das Kartenmaterial besichtigen. »Aber wie ist es denn mit der Kost und wie logiere ich auf der Wanderschaft? Geld kann ich unmöglich ausgeben«. »Geld sollen sie auch nicht ausgeben«, entgegnete der Hauptmann, »für Kost werde ich sorgen, sie nehmen Brot und Zehrung(?) Im Rucksack mit. Nachtlogis müssen Sie allerdings bei Mutter Grün nehmen. Sie können auch eine Anzahl Bouillonwürfel mitnehmen; mittels eines großen Trinkbechers sind Sie imstande, eine Mittagssuppe herzustellen. Holz zum Feuer machen finden Sie überall. Auch brauchen Sie keine Angst zu haben, durch ihr Feuer würde ein Waldrand entstehen; so etwas passiert nur in der gemäßigten Zone, nicht bei uns. Sollte Ihnen der Mundvorrat ausgehen, so können Sie von den Urwaldkolonisten billig Brot kaufen. Was sie an Geld ausgeben, vergüte ich selbstverständlich. Übrigens geben sie sich bei den Urwaldbewohnern als neu Eingewanderter aus, und sagen, Sie seien auf Landsuche, und jeder wird Ihnen gern Obdach und Kost geben. Sie dienen auf diese Weise nicht nur mir, sondern auch sich selbst. Sie kommen mit den Urwaldbewohnern in Berührung, lernen deren Arbeit kennen, werden Preise von Vieh und Früchten gewahr, und können sich selbst ohne viel Kosten über Land und Leute orientieren«.

Ich fand den Vorschlag gar nicht übel und sagte zu. Zwar kamen mir einige Bedenken wegen der Wilden, die Buger genannt werden. Der Hauptmann zerstreute jedoch diese Bedenken mit dem Hinweis, dass die Wilden weit ins Innere zurückgedrängt seien, und ich ja erst besiedelte Gegenden aufsuchen könne, zum Beispiel

(p.23) könne ich erst mal nach San Bento gehen, wo er noch ein Gut habe, das an einen Schwarzen verpachtet sei, dort die Pacht zu holen. Der Schwarze bezahle schlecht, wenn er ihm nicht ab und zu in die Rippen stoße, kriegt man überhaupt nichts.

Ei, dachte ich, was doch der Hauptmann für ein schlauer Kopf ist, soll ich den Gerichtsvollzieher für ihn spielen, und riskiere ich dabei vielleicht mein Leben.

Die Schwarzen waren im Großen und Ganzen gemütliche Leute. Sie waren früher aus Afrika als Sklaven eingeführt worden. Vor etlichen Jahren war jedoch der Sklavenhandel aufgehoben, sodass diese Schwarzen, gleich den Weißen sich irgendwo ansiedeln konnten. Ein solcher Schwarzer hatte das Gut des Herrn Hauptmann in Pacht, und meine Aufgabe sollte darin bestehen, die rückständige Pacht zu holen. Trotzdem mir der Plan etwas abenteuerlich vorkam, nahm ich den Vorschlag doch an.

Der nächste Morgen fand mich bei Zeiten in der besten Stube vor einem Tische sitzend, der mit mehreren selbst angefertigten Karten bedeckt war, neben mir der Hauptmann stehend. Die Karte in der Richtung San Bento hatte ich bald in Abschrift. Der Hauptmann sprach seine Verwunderung über meine Auffassungsgabe und mein Zeichentalent unverhohlen aus. Beim Frühstück hatten wir die Sache so weit geregelt, dass ich losziehen konnte. Der Tornister war gepackt voll Brot und Zehrung(?). Eine wollene Decke lag daneben, die mir als Nachtlager dienen sollte. Ein doppelläufiges Gewehr vervollständigte mein Gepäck.

Ich selbst trug deutsche Militärstiefel, blank gewichst, Hose in den Stiefel, luftige Jacke, eine Art Litewka(?) und einen breitränderigen Hut auf dem Kopfe. In diesem Anzuge stehend, hörte ich die Verhaltungsmaßregeln an, die zu beobachten jedem Urwaldreisenden höchst wichtig ist.

Begegnet man im Urwald, weitab von allen menschlichen Wohnungen, einem Menschen, ruft man ihn auf etwa 15 Schritt sein »bon dias«, guten Tag, zu. Antwortet er nicht, kann und darf man eine feindliche Gesinnung vermuten. Man ruft den Gruß zum zweiten Male. Gibt der Näherkommende wieder keine Antwort, so fliegt das Gewehr von der Schulter. Man legt unbedingt auf den Ankömmling an. Dann wird auch der Schwerhörigste und Unwissendste seine Sprache finden.

(p.24) Kommt man im Urwald an ein Haus, und findet draußen keinen Menschen, dem man sein »bon dias« zurufen kann, soll man nicht direkt ins Haus gehen, da dieses den sofortigen Tod zur Folge haben kann. Jeder Urwaldbewohner hält sein Gewehr schussbereit, und es könnte das plötzliche Erscheinen eines biederen Reisenden, mit dem Überfall von Bugers verwechselt werden. Der Wanderer hat vielmehr vor dem Hause auf freiem Platze stehen zu bleiben und in die Hände zu klatschen, bis einer der Bewohner herauskommt. Alsdann hat der Wanderer sein Begehren anzubringen, und die Aufforderung zum Eintreten abzuwarten.

Das waren also die Verhaltungsmaßregeln, die ich auf meiner Wanderung zu beobachten hatte. Ich versprach dem Mann, alles genau zu beachten, und erhielt noch zuletzt einen Siegelring mit dem Wappen, davor »von Altrock«, als Legitimation.

So fand mich denn die elfte Vormittagsstunde auf dem Wege nach »San Bento«. In nördlicher Richtung verließ ich das Städtchen Joinville, um mich später westlich zu wenden. Die Straße war anfangs gut, wurde aber nach Verlauf von mehreren Stunden schlechter. Es traf sich, dass ein Metzger aus Joinville vor einem Wirtshaus hielt, und eben im Begriffe war, weiter zu fahren, als ich anlangte. Ich kannte den Metzger, redete ihn an, und bat ihn, mich eine Strecke mitzunehmen; einem Wunsche, welchem der Metzger bereitwillig nachkam.

Der Tag war heiß, und ich hatte gerade die heißesten Stunden zur Wanderung benutzt. Da der Metzger den Hauptmann gut kannte, erzählte ich ihm, was ich vorhatte, dass ich im Begriffe stände die Pacht von dem Neger einzuziehen. Da musste der Metzger hell auflachen, denn den Neger, den alten Francisco, kannte er auch. »Aber dass sie Geld haben wollen, von dem alten Francisco, das gibt‘s nicht«, sprach der Metzger, »der Alte ist ein solcher Knicker, dass er sich für einen halben Milreis den Kopf abreißen lässt«. Wenn die Sache so steht, dachte ich, wird wohl meine Mission mit einem negativen Resultat enden. Erreiche ich auch den Zweck meiner Reise nicht, so erreiche ich doch mein Ziel, und komme mit vielen Leuten in Berührung.

Auch der Metzger gab mir dieselben Verhaltungsmaßregeln, wie der Hauptmann.

(p.25) Nur bei Wirtschaften ist die Sache einfacher, die Wirtschaften nehmen jeden ohne Händeklatschen auf.

Nach Verlauf von zwei Stunden bog der Metzger in eine Seitenstraße ein, und ich musste absteigen; mich vielmals bedankend schritt ich meines Weges weiter. Schon wurden die Ansiedlungen seltener. Stellenweise zeigte sich der Urwald, wenn auch nicht in seiner urwüchsigen Pracht. Der Wald war hier schon vielfach gelichtet worden, die wertvollen Hölzer waren gefällt. Um den Nachwuchs kümmerte sich keiner, so dass Dornengestrüpp und Schlingpflanzen hie und da die Überhand genommen hatten. Was hätte dieser Wald, bei rationeller Betriebsweise, noch viel brauchbares Holz liefern können, da er nur 7 Stunden von der Stadt lag; in der Stadt aber jedermann auf Holz zur Feuerung angewiesen war. Selbst die Flussdampfer wurden mit Holz gespeist. Die Schmiede gebrauchten Holzkohle, Steinkohle war nirgends zu haben.

Indessen näherte ich mich einer neuen Ansiedlung, wo drei Kolonisten sich nebeneinander angesiedelt hatten. Hier erblickte ich den ersten ländlichen Kirchhoff. Wie gebannt blieb ich stehen, beim Anblicke der großartig schönen Blumen und Strauchwedel, welche die Gräber bedeckten. Der Kirchhof lag auf sanft aufsteigendem Gelände, und war mit hoher stattlicher Kaktushecke umgeben, sodass kein Vieh, nicht einmal es die Hühner wagten, die Hecke zu durchdringen. Steinerne Denkmäler gab‘s hier nicht, nur und da hölzerne Kreuze, wovon einige die Namen der Toten trugen. Dagegen aber waren die Gräber selbst mit solch herrlichen Blumen und Ziersträuchern ausgestattet, dass es wirklich eine Lust war, einen solchen Kirchhof anzusehen. Bei mir dachte ich: Auf einem solchen schönen Kirchhof möchte ich auch wohl begraben sein. Fast vergaß ich, ob der herrlichen Blumenpracht, dass ich an der Stätte des Todes stand, und wie ein Frevel durchdrang es mich, dass ich mich jetzt schon wollte begraben lassen, nur wegen der schönen Blumen, die auf meinem Grabe wachsen würden. Bewundernd stand ich still und betrachtete die großartige Pracht. Gewiss hatte der Urwald sein Schönstes, was er an Blumen und Sträuchern bot, für diese Gräber hergeben müssen. Und unter dieser Pracht schlummerten die Toten dem einstigen Auferstehungstage entgegen. Wenn dann ihre Leiber auch in solch herrlicher Pracht ihrem Grabe entsteigen werden, wie diese Blumen, die sie jetzt noch bedecken, dann werden Sie sicher des Himmels würdig sein.

Kinder Stimmen wurden laut; ich hörte, wie eines dieser Kleinen sagte:

(p.26) »Der fremde Onkel steht noch immer da«. Diese Worte veranlassen mich weiter zu gehen, war eben im Begriffe, die Kinder anzureden, als ich im neben anliegenden Garten eine Frau erblickte, offenbar die Mutter der Kleinen. Ich redete sie an mit den Worten: »Sie haben hier einen prachtvollen Kirchhof, die herrlichen Blumen, die sind doch schön«. »Ja, der Kirchhof ist schön«, erwiderte sie, »Sie sind wohl fremd hier, wenn Sie unseren Kirchhöfen solche Bewunderung zollen, die Kirchhöfe sind hier alle schön«. »Oh ja« sprach ich, »schön sind sie wirklich und fremd bin ich auch hier; habe eben noch gedacht, hier wollte ich mich wohl begraben lassen«. Da wurde die Frau ernst gestimmt und meinte, »dass sie fremd sind, hört man, denn sonst würden sie nicht so naiv reden können; drüben in Deutschland haben die Toten wenigstens drei Tage Ruhe im Hause, aber hier gönnt man ihnen nur 24 Stunden, dann müssen sie fort. Diese schnelle Forttragen ist traurig, aber was soll man machen, das Klima erfordert es eben. Voriges Jahr ist mein Mann gestorben, das zweite Grab in der letzten Reihe, da liegt er, was soll man machen, als den Platz schmücken, wo er liegt«.

Ich brach das Gespräch ab, da es anfing die Frau traurig zustimmen. Etwas Trauriges wollte ich eigentlich nicht sehen, ich wollte die Welt froh durchwandern, ihre Schönheiten zu sehen. »Ist das ihr Haus«, fragte ich. Die Frau bejahte. »Oh, so werden Sie wohl erlauben«, fuhr ich fort, »dass ich mich auf der Bank dort ein wenig ausruhe, ich habe noch weit zu gehen, ich will nach San Bento«. »Nach San Bento«, erwiderte sie, »das ist noch weit, aber warum benutzen Sie nicht die Postkutsche. Morgen früh wird sie hier vorbeikommen, und fährt nach San Bento, dann sind Sie gegen Abend dort«. »Jaja, die Postkutsche, die kostet Geld, und Geld habe ich nicht«. »Sie haben kein Geld« entgegnete die Frau, „so sehen sie aber nicht aus, sie machen den Eindruck eines reisenden Farmers aus den Nordstaaten, der die Taschen voll Geld hat«.

Dieses Lob meines Äußeren schmeichelt mir nicht wenig, und dachte, wenn das Letztere doch wahr wäre, der die Taschen voll Geld hat. Unwillkürlich dachte ich: Wenn ich auf diese Frau solch guten Eindruck mache, werde ich auch wohl anderswo gut durchkommen. Die Gelegenheit nutzend fragte ich, ob ich wohl für diese Nacht Herberge bekommen könne. Die Herberge, meinte die Frau, sei noch 2 Stunden weiter, aber ich könne doch hierbleiben, wenn ich vorliebnehmen wolle, mit dem was sie mir bieten könne.

(p.27) Gewiss, war ich damit einverstanden, mochte sie mir so wenig bieten, wie sie wolle, war es doch besser unter Dach zu schlafen, als im Freien. Wir wurden um ½ Milreis für Nachtlogis einig. Ich schnallte meinen Rucksack ab, zog die Stiefel aus, und machte es mir bequem. Die Frau brachte mir das brasilianische Nationalgetränk, den Matetee. Bald hatte ich meine leiblichen Bedürfnisse befriedigt und unterhielt mich mit den Kleinen. Die Kinder sprachen rein deutsch, mit einem Anflug von rheinischem Dialekt. Auf meine Frage, wie lange sie schon hier wohnten, konnten sie jedoch keine Antwort geben. Deshalb fragte ich die Frau, wie lange sie schon hier seien, und wo sie her stammten. Sie sagte mir: »Vor zehn Jahren sind wir aus Essen hier her gekommen, mein Mann war Platzarbeiter, Ärger und Verdruss vertrieb uns von dort; nun sind wir hier, lebte mein Mann noch, dann ging es uns gut. Es geht uns so nicht schlecht, aber wenn mein Mann noch lebte, wäre es hier wunderschön.

Ich erkundigte mich nach der Ernte und nach den Fruchtpreisen, und ob auch die deutsche Kartoffel angebaut würde. »Wir haben noch nie einen Missernte gehabt«, entgegnete die Frau, »und was die Preise anbelangt, so sind diese allerdings nicht hoch, doch gibt‘s alleweil bares Geld. Die deutsche Kartoffel wächst hier auch, aber sie artet rasch aus. Weil man eben keine neue Sorte bekommen kann, so ist ihr Ertrag gering, weshalb sie auch hoch im Preise stehen, der Zentner kostet 20 Mk.

Doch auf San Bento, wo im Winter ab und zu Schnee fällt, gedeiht sie gut, es kommen manchmal sehr dicke Kartoffeln von dort. Auf San Bento wird auch Roggen angebaut. Hier gedeiht am besten die brasilianische Kartoffel, man braucht keine Saatkartoffeln, sondern die Sträucher der ausgegrabenen Kartoffeln werden zu Stecklingen verwandt und die neuen Kartoffeln wachsen wieder daran. Die meisten brasilianischen Kartoffeln sind an keine Reifezeit gebunden, sie können ein Jahr, zwei Jahre länger stehen, sie wachsen immer dicker. Doch schmecken sie mit einem Jahr am besten.

Die Frau zeigt mir ihre Stallungen, zwei Kühe, ein Maulesel, zwei Ziegen, und eine ganze Anzahl Schweine nannte sie ihr Eigen. Das Anwesen bewirtschaftete sie allein im Verein mit ihren Kindern. Jedoch waren die Kinder noch zu klein, um merkliche Hilfe zu bringen.

Die brasilianischen Kühe haben sehr lange Hörner, regelrecht über 1 m lang; ist kein besonders gutes Milchvieh, nur wo es mit deutschen Vieh gekreuzt wurde, ist der Ertrag bedeutend besser. Ebenso erging es den Ziegen, und würde auch hier eine deutsche Kreuzung lohnend sein.

(p.28) Der nächste Morgen sah mich beizeiten wieder auf der Wanderung. Es marschierte sich in den ersten Morgenstunden besser, als gestern in der Mittagshitze. Nach 2 Stunden traf ich die von der Frau erwähnte Herberge. Ganz einsam, ohne jegliches Nachbarhaus lag sie direkt an der Landstraße im Urwald. Ich ging vorüber, und war kaum 200 m entfernt, als ich die Postkutsche hinter mir rasseln hörte. An der Herberge hielt sie, während ich weiter ging.

Es wurde immer wärmer, die Straße immer schlechter; hie und da war sie dermaßen tief ausgefahren, dass bequem ein Mann sich in die Räderfurche legen konnte, ohne gesehen zu werden. Es hatte in der letzten Zeit geregelt, so dass ganze Wassertümpel auf dem Wege standen. Diese Wassertümpel wurden immer zahlreicher, je weiter ich kam, bis zuletzt die ganze Straße überschwemmt war. Das Wasser stand so hoch, dass es drohte, in meine Stiefel zu kommen, weshalb ich die Stiefel auszog und mit umgekrempelter Hose durchs Wasser ging. An einem etwas erhöhten Punkte, stand ein schwarzer Knabe mit einem Kanu, der mich fragte ob ich übergesetzt werden wolle. Der Kleine sagte, das Wasser würde immer tiefer werden, für einen halben Milreis würde er mich übersetzen. Ich verneinte. War das Wasser doch schön lau, und dachte ich, lass es tiefer werden, gehen muss ich doch, kann keinen halben Milreis dafür opfern. So ging ich langsam weiter, behutsam voranfühlend, damit ich nicht in eine Vertiefung glitt. Das Wasser wurde aber wirklich immer tiefer, meine umgekrempelte Hose war schon durchnässt, das Wasser stand mir fast bis zum Oberkörper. Das Gehen war sehr beschwerlich, und ich dachte, wenn es noch immer tiefer wird, muss du doch noch den kleinen Schiffer rufen und den halben Milreis opfern; denn ich war manchmal nahe daran, vom Wasser hochgehoben und umgeworfen zu werden. Unter stetem langsamem Voranschreiten schien es mir, dass ich die tiefste Stelle des Wassers bereits überschritten habe, und wirklich, allmählich verminderte sich die Flut, sodass ich bald wieder auf trockenem Boden stand.

Bis jetzt hatte ich von meinem Kartenmaterial noch keinen Gebrauch gemacht, doch jetzt, als ich auf dem Trockenen stand, gedachte ich diesen kleinen See auf der Karte zu verzeichnen. Dann versuchte ich meine Stiefel wieder anzuziehen, die waren aber dermaßen nass geworden, dass ich es vor zog, barfuß zu gehen. Barfußgehen war allgemein Sitte.

(p.29) Zum Verzehren meines Frühstücks mochte ich wohl ¼ Stunde gebraucht haben, und ich war eben im Begriffe weiter zu gehen, als am anderen Ende des Sees die Postkutsche herangejagt kam. Die Kutsche jagte ins Wasser, dass dieses hoch aufspritzte. Da es immer in scharfem Trab, mitunter im Galopp ging, schlugen die Wasser über der Kutsche zusammen, besonders dann, wenn eines der Räder in eine tiefe Furche geriet, sodass die Kutsche mehrmals umzufallen drohte. In der Mitte des Sees gingen die Maulesel trotz allem Ansporn des Postillions im Schritt, aber kaum war die Mitte überschritten, als die Tiere wieder in Trab fielen, und die Kutsche wieder hin und her geworfen wurde. Schreie der Mitfahrenden wurden laut, besonders eine Dame schrie fortwährend dem Kutscher zu, er solle doch langsam fahren.

Endlich war die Stelle, wo ich stand, glücklich erreicht; hier hielt die Kutsche. Die schreiende Dame sprang zuerst heraus und schimpfte über des Postillions unsinniges Fahren. Sie hielt ein Kästchen mit Nippsachen in der Hand, wovon die meisten zerbrochen waren. Sie warf die zerbrochenen Figürchen dem Postillion vor die Füße und schrie: »Kutscher mein Fahrgeld zurück, und die Sachen bezahlt, ich fahre nicht mehr mit«.

Die Kleider der Damen waren nass geworden, die Kutsche selbst tröpfelte aus allen Löchern. Der Kutscher hatte für die Lamentationen der Dame nur ein Lächeln, und meinte die Dame solle nur wieder einsteigen, es gehe jetzt ohne Gefahr. Auch die übrigen Fahrgäste, die angesessene Bewohner waren, sprachen begütigend auf die Dame ein, und meinten, das sei nichts Neues, dass man mal so ordentlich durchgerüttelt werde.

Während sich die Dame zu mir auf den Straßenrand setzte, mir ihr Leid klagte, die Nippsachen, die sie aus Deutschland mitgebracht hatte, und nun so dicht vor dem Ziel ihrer Reise zerbrechen musste, fütterte der Postillion in aller Gemütsruhe seine Maulesel. Ich erfuhr von der Dame, dass sie nach Reichenberg wollte, dass dicht bei San Bento liegt. Sie war aus Hannover und wollte den Winter bei ihren Verwandten in Brasilien verbringen.

Als endlich der Postillion zum Einsteigen mahnte, ließ sich die Dame durch allseitiges Zureden doch bewegen, wieder einzusteigen. Die Postkutsche verschwand bald hinter der rechten Wegebiegung und ich zog hinterdrein. Der Himmel hatte sich verdunkelt, ein feiner Regen ging hernieder, der insofern gut tat, dass er die lästigen Moskiten fern hielt und den Sonnenbrand milderte. Die Gegend wurde immer romantischer, hohe Bergrücken traten auf, hinter denen sich Schluchten mit klaren Gebirgsbächen verbargen.

(p.30) Mächtige Felsen erhoben sich, sodass die Straße eingezwängt sich kaum hindurch zu winden wusste. Hier standen noch vielfach die mächtigen Urwaldriesen in deren Zweigen hie und da ein Affe sichtbar wurde. Ungezählte Kolibris durchschwirrten die Luft. Dieser kleinste Vogel der Welt ist in mehreren Abarten vertreten. Die kleinste Art ist nicht größer als unser Maikäfer. Er trinkt schwebend den Saft aus dem Blumen; der Schnabel ist so lang, wie der ganze Vogel selbst, seine Zunge steckt er weit hervor, so ist es ihm möglich, schwebend seinen Durst aus den tiefsten Kelchen zu löschen.

Schwarze Parakis(?) und weiße Kakadu boten ein abwechselndes Bild. Ich war mitten im Urwald, kein Haus weit und breit. Von weitem sah ich einen Neger kommen. Unwillkürlich griff ich nach meinem Gewehr, und rief ihm auf ungefähr zehn Schritt »bon dias signor« zu. Die Antwort kam prompt: »bon dias signor«. Wir gingen einander vorbei, mir wurde ordentlich leichter ums Herz, hatte ich doch meine erste Begrüßungsprobe in Urwald bestanden. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Ansiedlung auch das Betreten eines Hauses vorschriftsmäßig zu versuchen.

Ich war schon wieder 5 Stunden gelaufen, sah und hörte nichts, als das Zirpen der Insekten und das Zwitschern der Vögel. Weit und breit kein Haus. Ich beschloss etwas auszuruhen, und legte mich am Waldesrand unter Buschwerk nieder. Kaum lag ich, als eine mächtige Schlange daher kroch. Sofort sprang ich auf, griff nach dem Stock, ein Schlag dem Tier auf den Kopf war das Werk eines Augenblicks. Das geschlagene Tier zog sich blitzschnell zusammen, um im nächsten Moment wieder auseinander zu schnellen. Kopf und Schwanz berührten die Erde, der übrige Körper war als Bogen in die Höhe gespannt. Dann lag die Schlange einige Sekunden ruhig am Boden. Dies benützend gab ich ihr einen zweiten Schlag ins Genick. Wieder blitzschnell flog sie empor, um ebenso schnell wieder zurückzufallen. Dann kollerte das Tier wie ein mächtiges Rad durch Busch und Strauchwerk, bis es endlich ruhig liegen blieb, wo es wahrscheinlich verendet ist.

Ich aber ging weiter, bis ich nach 2 Stunden eine Sägemühle traf. Die Mühle selbst stand abseits der Straße, das Wohnhaus aber dicht am Wege. Hier wollte ich rasten, womöglich auch die Nacht verbringen. Ich stellte mich deshalb vor das Haus und klatschte einige Male in die Hände.

(p.31) Kurz darauf öffnete ein etwa zwölfjähriger Knabe die Tür, ich fragte ob Mamaio oder Papaio (Mutter, Vater) zu Hause. „Papaio ist auf der Mühle, Mamaio ist hier im Hause«, erwiderte der Knabe, »was wünschen Sie von ihnen?«. »Geh hin, Kleiner«, sprach ich, »sag deiner Mamaio, es sei ein müder Reisender da, der bittet um Nachtherberge«. Der Knabe verschwand im Hause, und kehrte bald mit seinem Vater zurück, der mich kritisch musterte und mich fragte, was ich wolle. Ich wiederholte meine Bitte um Nachtherberge, wurde aber damit abgewiesen, die Herberge sei noch 3 Stunden weiter, er könne mir keine Nachtherberge geben. Ich bat, mich wenigstens etwas ausruhen zu dürfen, da ich schon weit gewandert sei, und nach San Bento wolle.

Ich erhielt schließlich die Erlaubnis ins Haus zu treten, wo mir die Frau sofort eine Tasse Kaffee brachte nebst einigen Bananen. Der Knabe blieb immer in meiner Nähe, wenn auch die Eltern zeitweise hinausgingen. Ich spürte, dass die Leute misstrauisch waren, und jede Unterhaltung kurz abtaten. Ich fragte ihn, wie lange sie schon hier wohnten, und wo sie herstammten; erfuhr, dass sie erst drei Jahre hier wohnten, und dass sie aus Pommern seien. Dann erkundigte ich mich nach dem Absatz an Brettern, dem Gedeihen des Zuckerrohrs, fragte den Kleinen wo er lieber sei, hier oder in Pommern, und suchte mir möglichst die Sympathie des Knaben zu erringen. Unter anderem fragte ich den Kleinen nach den Grundstückspreisen und sagte, ich sei auf Landsuche und wolle mich auch irgendwo ansiedelten, wo ich gute Menschen treffe. Die letzte Äußerung musste der Frau wohl gefallen haben, denn sie fragte: »Sie sind auf Landsuche und können kein Land finden? Land ist doch genug da, gleich hier auf der anderen Seite des Baches können Sie Land genug kaufen.« »So, hier bei Ihnen«, entgegnete ich, »das wäre ja prächtig, dann könnte ich mir auch noch etwas verdienen. Brauchen Sie auf Ihrer Mühle keinen Arbeiter?« »Arbeiter können wir immer gebrauchen »sprach die Frau, »aber man kann nicht jedem trauen«. »So haben Sie wohl schlechte Erfahrungen gemacht, wie es scheint.« »Leider«, erwiderte die Frau, »aber was haben Sie denn gelernt?«

(p.32) »Ich habe nichts gelernt«, sprach ich, »stamme aus Westfalen, und bin in den dortigen Wäldern groß gewachsen, will mich deshalb auch im Walde ansiedeln«.

Die Frau befahl dem Knaben, den Vater mal hereinzurufen.

Als der Vater erschien, trat ihm die Frau entgegen, nahm ihn beiseite, während der Knabe wieder bei mir allein im Zimmer blieb. Ich nahm die Unterhaltung mit dem Knaben wieder auf, in dem ich mich nach dem vorhandenen Wild in den Wäldern erkundigte.

Nach kurzer Zeit erschienen die Eltern wieder, der Vater fragte sofort, ob ich Arbeit suche. Ich antwortete: »Ja, Arbeit und Verdienst, und womöglich eigenes Land, nahe bei meiner Arbeitsstätte«. »Das können Sie beides hier haben, vorausgesetzt dass Sie ein ehrlicher Kerl sind. Sobald ich spüre, dass ich es mit einem Schuft zu tun habe, hört die Gemütlichkeit auf. Haben sie denn auch Papiere, die sich sehen lassen können?«.

»Meine Papiere sind gut«, entgegnete ich, zog meine sämtlichen Papiere nebst dem Kartenmaterial hervor, und breitete sie auf dem Tische aus. Dem Müller schob ich meine Heimatpapiere hin, die er einer gründlichen Durchsicht unterzog, und sehr erstaunt fragte: »Sie haben in Saarburg in Lothringen gedient, da habe ich auch gedient von 1884 bis 1887«.

Von diesem Augenblick an war der Müller wie umgewandelt, er holte eine Kiste Zigarren herbei und nötigte mich, zuzugreifen. Der Fragen nach seinem ehemaligen Regiment No. 97 waren sehr viele. Zwar hatte er drei Jahre früher gedient als ich, und dazu hatte er bei der zweiten, ich bei der dritten Kompanie gestanden. War es aber doch ein und dasselbe Bataillon gewesen, dem wir angehört hatten, so war es auch sehr erklärlich, dass wir uns bald ganz angelegentlichst von unserer Dienstzeit unterhielten. Bekannte Wirtschaften, die Exerzier- und Schießplätze, ja alles Mögliche wurde erwähnt; so konnte es nicht ausbleiben, dass wir zueinander Zutrauen fassten, und mir gern Nachtlogis gewährt wurde. Auch sollte ich Land kaufen, dicht bei ihm, Arbeit sollte ich bei ihm nehmen. Das anfangs gehegte Misstrauen war gänzlich verschwunden. Auch die Frau und der Knabe benahmen sich freundlich, ich wurde zum Essen genötigt.

(p.33) Als wir uns zu Tische setzen wollten, traten noch zwei schwarze Arbeiter und ein schwarzes Mädchen herein, sich ebenfalls zu Tisch setzend. Dann sprach der Müller zum Knaben »Bete!«. Wie musste ich staunen, als alle das Kreuzzeichen machten und der Knabe die mir so bekannten Tischgebete sprach.

Nach dem Beten fragte ich, »Ich seid katholisch? Habe bis heute hier ins Brasilien noch keinen pommerschen Katholiken getroffen.« »Glaub´s gern«, sprach der Müller, »meine Landsleute sind meist evangelisch«.

Das Tischgespräch drehte sich nun meist um das katholische Leben im Urwald. Es wurde mir erzählt, dass in Ihrem Hause ein Zimmer sei, dass sie die Kapelle nannten. Jeden Sonntag hielten sie und ihr katholischer Nachbar in dieser Kapelle Gottesdienst; sie beteten gemeinsam den Rosenkranz, das sei ihre Messe. Eine wirkliche Messe konnten sie nur hören, wenn sie mal nach Joinville kämen, wie das zu Weihnachten geschah, wo der Müller mit seinem Sohn und einem Arbeiter zur Kirche gewesen war, oder wenn ein Missionar bei Ihnen einkehrt, welches jährlich 3-4 mal vorkommt. In der Regel seien sie von der Ankunft eines Missionars unterrichtet. Es wird dann alles zur kirchlichen Feier vorbereitet. Der katholische Nachbar und eine Negerfamilie fehlen nie bei solcher Gelegenheit. Alle empfangen dann die heiligen Sakramente. »Hat der Missionar uns dann wieder in Ordnung gebracht«, so schloss der Müller seinen Bericht, »zieht er weiter, nach San Bento«.

Auf meine Frage, wie es aber mit den Schwerkranken gehe, die vor dem Sterben noch gern beichten möchten, erwiderte der Müller: »Dann nimmt unser Sohn Heinrich die flinkste Mule, und holt den geistlichen Herrn aus Joinville. Ehe der Tag zur Neige geht, ist der Kranke versehen. Sehen Sie junger Freund, ich und auch mein Nachbar halten sehr darauf, dass wir und unsere Leute so leben, dass wir vor dem Tode keine Angst zu haben. Es ist auch bis jetzt bei uns noch nicht vorgekommen, dass einer ohne Sakramente gestorben ist. Haben wir unseren Herrgott im Leben nicht verlassen, wird er uns auch im Tode nicht verlassen, das ist sicher«.

Nun! Dachte ich, der Müller hat ein starkes Gottvertrauen, möge es nie erschüttert werden.

Nach dem Essen besichtigten wir die Anlagen, besonders die Sägemühle interessierte mich am meisten.

(p.34) Hier lagen dicke Bäume von 6 m Länge, die an jedem Ende einen eisernen Zapfen hatten. An diesem Zapfen wurden je zwei Pferde oder Maulesel gespannt, die den Stamm nach der Mühle zogen. Der Stamm rollte wie eine Walze, mit der in Deutschland der Landmann seinen Acker walzt. Das Holz war billig, aber die geschnittenen Balken und Bretter wurden gut bezahlt.

Auch die Kornmühle besichtigte ich. Dies war keine eigentliche Mühle, sondern ein durch Wasserkraft emporgehobener Schwengel mit eiserner Stange, die dröhnend auf das in einem Bottich befindliche Korn fiel, und dasselbe langsam, aber sicher zerstampfte. So primitiv diese Anlage war, erfüllte sie doch ihren Zweck.

Den Nachmittag hatte ich, um mich für den morgigen Tag zu stärken. Beim Abendessen machte ich dem Müller den eigentlichen Zweck meiner Reise bekannt. Auch er meinte, dass er schwerhalten würde, von dem alten Francisco Geld zu bekommen.

Der Umstand, ob ich das Geld erhalten würde oder nicht, bereitete mir vorläufig wenig Kummer, war es für mich doch die Hauptsache, Land und Leute kennen zu lernen.

Am anderen Morgen wurde ich geweckt, als es eben dämmerte. Die Dämmerung ist in jenen Gegenden nur kurz; kaum eine halbe Stunde, und die Sonne steigt im Osten empor. Ebenso am Abend. Kurz nach Sonnenuntergang ist es dunkle Nacht.

Rasch hatte ich Kaffee getrunken, einige frische Butterbrote in den Rucksack gelegt, und das Ziel meiner Reise musste zu Mittag erreicht sein. Die Straße war sehr schlecht, der Urwald breitete sich zu beiden Seiten mit seinem undurchdringlichen Gewirr aus. Kein Haus, kein Mensch war zu sehen. Unzählige Kolibris durchschwirrten die Luft. Ich war an dieses Urwaldleben gewöhnt, und glaubte alles so ziemlich gesehen zu haben. Ich hatte die Nester der stachellosen Bienen, der grünen und schwarzen Wespen betrachtet, hatte die Höhlen des Gürteltieres und Ameisenbären untersucht, war umschwärmt worden von Moskitos, hatte Schlangen erschlagen, mich am Anblick wildlebender Affen ergötzt, hatte den Urwald mit seinen Bewohnern kennengelernt. Fast plötzlich gewahrte ich auf dem Wege vor mir einen sich bewegenden Streifen.

(p.35) Als ich näherkam, waren es Wanderameisen, die vom linken Waldesrand herkamen, quer über die Straße zogen, um am anderen Ende wieder im Urwald zu verschwinden. Mancher würde wohl achtlos vorüber gegangen sein, doch mich fesselte alles, was an Kleintierleben sich mir bot.

Alle Ameisen trugen ein kleines Blättchen Grün kerzengerade auf dem Kopfe; es waren winzig kleine Salatblättchen. Dazu kam noch der Umstand, dass die Ameisen nicht wie bei uns, nach Willkür ihren Weg nahmen, nein, es waren Sektionen, wirkliche Militäraction zu vier Ameisen, ausgerichtet in Reih und Glied, eine Sektion hinter der anderen.

Das Interessanteste aber bei diesem Marsche waren die Offiziere, welche die Abteilungen befehligte. In Abständen von je zehn Sektionen marschierten auf der rechten und linken Seite je eine große Ameise, doppelt so groß wie die anderen. Ab und zu stellte sich eine dieser großen Ameisen auf die Hinterbeine, und blickte rückwärts, als ob sie sich überzeugen wollte, dass alles noch in Ordnung sei. Dieser Marsch der einzelnen Sektionen geschah mit solch genauem Abstand halten, wie es die beste Militärkompagnie nicht besser hätte ausführen können. Ich setzte mich am Rande der Straße nieder, legte meinen Rucksack ab, und betrachtete diesen seltsamen Marsch.

Da ich ohnehin etwas rasten wollte, gedachte ich so lange hier liegen zu bleiben, bis das Ende dieser Ameisenschar kam. Immer neue Sektionen mit ihren Offizieren kamen aus dem Walde, alle überquerten die Straße und verschwanden im Urwald jenseits des Grabens. Dieser Graben aber stand voll Wasser, die Ameisen hatten eine Brücke ausfindig gemacht, sodass sie ohne Störung ihrer Ordnung hierüber marschieren konnten. Diese Brücke kam mir so merkwürdig geformt vor; eine Naturbrücke war es nicht gewesen, die Ameisen mussten die Brücke selbst gebaut haben. Dass die Ameisen intellegente Tiere sind, wusste ich, aber wie sie diese Brücke gebaut hatten, war mir unbegreiflich.

Wohl eine halbe Stunde hatte ich diesen Tieren zugeschaut, und noch immer nahmen die Scharen kein Ende. Da fiel es mir ein, die Brücke zu zerstören, um sehen zu können, was die Ameisen wohl ohne Brücke machen würden. Ein Griff und die Brücke fiel ins Wasser. Viele der Ameisen krochen an dem Grashalm, der die Brücke gebildet hatte, zurück ans diesseitige Ufer.

(p.36) Andere retteten sich schwimmend an den jenseitigen Uferrand. Die Zurückgebliebenen standen einen Moment ratlos an der zerstörten Brücke. Die Offiziere kamen herbei und sahen die Stelle, wo die Brücke gewesen war. Die Sektionen standen still. Plötzlich kam Bewegung in die Schar. Die Offiziere liefen eilends zurück, die Sektionen lösten sich auf, es gab ein wirres Durcheinander. Im Nu war ich umringt von Ameisen, meine Kleider waren voll, eh ich´s mich versah. Ich schüttelte ab und zerdrückte, was mir unter die Finger kam. Aus dem ruhigen fast unhörbaren Marsch war ein brausendes Getöse entstanden, gleich als ob ein Eisenbahnzug sich in der Ferne bemerkbar macht. Auch die schon glücklich die Brücke passierten Ameisen kamen zu Tausenden zurück am jenseitigen Ufer. Es entstand ein wildes Hasten und Suchen. Es schien als ob die Offiziere alle Gewalt über die Sektionen verloren hätten, als ob aus den so streng geordneten Abteilungen eine zügellose Masse geworden sei.

Die Ameisen suchten offenbar nach einer neuen Übergangsstelle. Etwa 50 m rechts und links oberhalb und unterhalb der früheren Brücke war der Graben mit Ameisen übersät. Während dessen kamen noch immer neue Sektionen aus dem Walde, um sich auf der Straße in Unordnung aufzulösen. Je mehr Ameisen herankamen, desto größer wurde das Geräusch, es hörte sich wie das Rauschen eines Flusses an. Der Rand des Grabens war hie und da mit Strauchwerk und Grashalm bewachsen. Jeder Strauch und jeder Halm wimmelte von Ameisen. Die meisten Halme bogen sich und schlugen mit den Tieren ins Wasser. An einem langen, starken Schilfhalme saßen die Tiere traubendick. Der ganze Stängel war von empor krabbelnden Ameisen bedeckt. Dieser neigte sich schließlich unter der Last der Tiere immer tiefer über das Wasser, bis er am anderen Ufer in Höhe von einem Fuß stehen blieb. Faustdick hingen die Ameisen an Stängel und Ähre, doch ging der Halm nicht tiefer. Die Ameisen am jenseitigen Uferrand setzten sich auf die Hinterbeine, aber ihr Bemühen, den Halm zu erreichen, war vergebens. Doch ließen sie den Mut nicht sinken, sie dachten offenbar: Hier muss anders geholfen werden. Ein Kreis bildete sich unter der herabhängenden Ähre, alle Ameisen setzen sich kreisförmig auf die Hinterbeine, andere kletterten daran in die Höhe und setzen sich auf die zuunterst Sitzenden, andere hängten sich an die aufrechtsitzenden Ameisen, um dem Ganzen einen Halt zu geben.

(p.37) So entstand eine Säule von lebenden Ameisen. Aber auch die an der Ähre hängenden Ameisen ließen sich säulenartig herab, bis die beiden Enden sich in der Mitte vereinigen konnten. Eine Brücke war entstanden, hochgewölbt, mit jähem senkrechten Abstieg. Diese Arbeit war eine staunenswerte Leistung, und zeugte von hochentwickelter Intellegenz der Ameisen.

Sofort begann der Marsch über die neue Brücke, das Rauschen der ungeordneten Massen wurde leiser, bis zuletzt sich alles in Sektionen wieder geordnet hatte, und ebenso lautlos marschierten wie vorhin. Der Halm blieb so dick mit Ameisen besetzt, dass ihre Kameraden sektionsweise hinübermarschieren konnten. Während meines Hin- und Hergehens hatte ich eine Anzahl Ameisen zertreten; was noch lebte, wurde mitgenommen. So eine Ameise trug ihren verwundeten Kameraden. Auf zwei Offiziere musste ich getreten haben. Diese wurden von je vier Ameisen sehr behutsam getragen. Unfehlbar galten diese Offiziere den gewöhnlichen Ameisen als ihre Vorgesetzten. Es war ein wunderbar interessantes Bild, welches sich mir hier bot.

Unser Herrgott mag sie gezählt haben, alle die Ameisen, die dort über die Straße marschierten, es ging sicher in die Millionen, denn nach Verlauf von 1 Stunde war ihre Zahl noch nicht schwächer, die Sektionen nahmen kein Ende.

Ich musste gehen, schon brannte die Sonne heiß, und ich wollte heute mein Ziel erreichen. Meinen Rucksack, Decke und Gewehr nehmend schritt ich weiter, im Herzen dem lieben Gott dankend, dass er mich dieses wunderbare Bild seiner kleinen Geschöpfe hatte sehen lassen. Ja, auch die Ameisen preisen des Schöpfers Macht und Weisheit.

Die Mittagszeit nahte heran, als ich wieder belebtere Gegenden traf. Ein Stacheldrahtzaun zog zuerst meine Aufmerksamkeit auf sich, dann sah ich bald das erste Haus von »San Bento«. Aber noch musste ich 1 ½            Stunden wandern, ehe ich am Ziele war.

Rechts und links vom Wege gab es herrliche Maisfelder, hohe Zuckerrohrstängel bedeckten ganze Flächen. Auch kam ein abgeerntetes Roggenfeld in Sicht. Etliche Kaffeebäume standen am Wege, Bananensträucher zeigten sich gruppenweise. In der Ferne qualmten einige Kohlenmeiler. Die brasilianische Kartoffel stand überall, nur die europäische Kartoffel sah ich nirgends, obgleich dieselbe hier gut gedeihen sollte.

(p.38) Ich vergaß, dass wir im Hochsommer waren, die europäische Kartoffel aber während der Winter- und Frühjahrsmonate gezogen wird. An einem Roggenfeld waren Schnitter beschäftigt; der Roggen war klein und reichte bei weitem nicht im Ertrag an ein deutsches Roggenfeld. Dagegen aber standen Erbsen, Bohnen und Suppenkräuter sehr schön.

Endlich hatte ich das Centrum von San Bento erreicht. Ich ging ins erste beste Wirtshaus, um eine Flasche Alkoholfreies zu trinken. Hier fragte ich den Wirt nach dem alten Francisco. Statt des Wirtes antwortete mir ein mäßig großer weißhaariger Neger: »Der alte Francisco bin ich«. »So« entgegnete ich gedehnt, den Neger kritisch musternd, denn einen guten Eindruck machte dieser kraushaarige Mann nicht. Nach kurzer Pause fragte der Neger: »Signor, was wollen Sie von mir?«. »Ich komme von Joinville«, sagte ich, »und habe einen schönen Gruß zu bestellen, von Herrn Hauptmann von Altrock«.

»Von Altrock?«, entgegnete der Neger und sein Gesicht verklärte sich, sodass ich annehmen konnte, dass er dem Hauptmann gut gestimmt sei.

»Und«, fuhr der Neger fort, »was lässt mir der Herr Hauptmann weitersagen?«. »Der Hauptmann« sprach ich, lässt den alten Francisco bitten, mir eine Nacht Herberge in seinem Hause zu gewähren«.

»Bon, bon« entgegnete der Neger, »aber wer ist der Signor?« »Ich bin ein Deutscher«, antwortete ich, und »bin eben auf Landsuche, möchte mich hier in San Bento vielleicht auch ansiedeln. Dazu brauche ich aber einige Tage Umschau; da hat mir der Herr Hauptmann gesagt, Signor Francisco sei ein guter Mensch und würde mich schon beherbergen«.

»Von Altrock ist brav, werde seinen Wunsch erfüllen!« Mit diesen Worten bezahlte der Neger seine Waren, auch ich bezahlte, und ging mit ihm hinaus.

Der alte Francisco war ein gesprächiger Mann, und ich dachte, er ist doch nicht so schlimm, als der Metzger ihn mir geschildert hat. Wir waren noch nicht weit gegangen, als der Neger in ein hübsches Haus einbog und sagte: »Gott segne deinen Eingang«. An der Tür kam uns ein Trupp Negerkinder entgegen, welche mir alle die Hand küssten, während der alte Francisco ins Zimmer gegangen war. Dann kam eine ziemlich bejahrte Negerin, machte eine etwas plumpe Verbeugung mit den Worten: »Signor wolle eintreten in unser Haus, der Herr wolle seinen Segen über uns ausgießen«.

(p.39) Diese Worte waren in so warmem Tone gesprochen, dass es für mich kein Zweifel war, dass ich das Gastfreundschaftsrecht wirklich genoss. Ich betrat das Zimmer, in dem fast die ganze Familie versammelt war. Alle begrüßten mich freundlichst in deutscher Sprache, während sonst vielfach der Neger lieber Portugiesisch spricht.

Ein sehr langer Tisch zierte das Zimmer, eine Anzahl Bänke und Stühle, nebst mehreren Schränken machte die ganze Einrichtung aus. Die Wände waren mit Bildern über und über behangen, darunter Kupferstiche des deutschen Kaisers; das Bild des Papstes war viermal vertreten. Auch Bilder der Muttergottes, der heiligen Familie, des heiligen Josef, des heiligen Petrus, des heiligen Franziskus, und noch andere waren durchweg in mehreren Exemplaren vorhanden. Es konnten wohl über 100 Bilder sein, die hier aufgehängt waren, fast alle religiösen Inhalts. Dieser Zimmerausschmückung nach, musste die Familie katholisch sein. Deshalb fragte ich den alten Francisco: »Waren sie auch Weihnachten in Joinville?« »Gewiss«, entgegnete er, »Weihnachten war ich mit 31 Kindern in Joinville zur Weihnachtsfeier«.

Verwundert sagte ich: »Mit 31 Kindern, das sind doch gewiss alle, die in San Bento sind« »Oh nein« sprach er »die 31 gehören mir alle, und für alle muss ich sorgen«. Ich musste wirklich staunen, von einem Vater der 31 Kinder hat, hatte ich noch niemals gehört. Und doch war es nach Auffassung des alten Francisco richtig, denn er war Urgroßvater, und zählte alle seine Enkelkinder als seine eigenen, die ganze Familie zählte rund 40 Köpfe. Wenn diese große Familie der alte Francisco allein ernähren sollte, so blieb wirklich nichts übrig, die Pacht für den Hauptmann aufzubringen.

Zu meiner größten Befriedigung aber gewahrte ich, dass auch nebst vielen kleinen, auch etliche erwachsene Kinder darunter waren.

An einer Ecke des langen Tisches wurde mir ein Essen aufgetragen, welches den unvermeidlichen Mate (Tee) als Schluss bildete. Während des Essens setzte sich der alte Francisco neben mich, und ich erfuhr, dass er früher als Sklave dem Hauptmann hatte dienen müssen, und mit ihm seine ganze Familie. Der Hauptmann sei aber ein sehr guter Herr gewesen, der seine Sklaven nie unmenschlich behandelt habe, sondern ihm nebst seiner ganzen Familie schon einige Jahre vor dem Sklavenkriege einen Freibrief ausgestellt habe.

Der alte Francisco sprach warm und liebevoll von dem Hauptmann, nannte ihn sehr oft den guten Signor. Er wusste sehr interessant zu erzählen, konnte sich im Deutschen sehr gut ausdrücken, konnte rechnen und lesen; der gute Signor hatte ihn und seine Kinder selbst unterrichtet.

(p.40) Mit inniger Freude bemerkte ich, dass Francisco noch immer in Liebe und Treue an dem Hauptmann hing. Er erzählte mir von seinem Sklavenleben, von den Streifzügen des Herrn Hauptmann, die er, der alte Francisco, stets mitgemacht hatte. Wie sie manchmal auf die »Bugers« (Wilden) gestoßen sein, wie der Hauptmann sehr viel für Kultur und Zivilisation getan habe.

Als die Revolution kam, die den Kaiserthron stürzte, als Kaiser Don Pedro fliehen musste, und die Rebellen die kaiserlichen Truppen hart bedrängten, da war es der Hauptmann, der die unmenschliche Grausamkeit der Rebellen hinderte, soviel er konnte. Als die Kaiserlichen zersprengt, in kleinen Abteilungen die Gegend durchzogen, und die Rebellen dicht hinter ihnen waren, da haben die Rebellen jeden Kaiserlichen, der ihnen in die Hände fiel, langsam eines qualvollen Todes sterben lassen. Die Rebellen stachen mit Dolchmessern ihren Opfern unter dem Kinn durch in den Mund, sodass die Doppelspitze zwischen den Zähnen aus dem Munde herausschaute. Durch diese Wunde zogen sie ein Taschentuch und hingen die solch Gemarterten mit dem Taschentuch am nächsten Baum auf, wo sie durch Blutverlust und schrecklichen Durst, von Moskitos zerstochen, oft nach tagelangen Qualen erbärmlich sterben mussten. Kein Mensch durfte solche dem Tode geweihte Opfer abschneiden. Nur der Hauptmann hatte den Mut, solche gemarterte  Soldaten, die nichts verbrochen hatten, als dass sie ihrem Kaiser treu blieben, trotz dem strengen Verbote in sein Haus zu holen und sie zu pflegen.

Der Hauptmann hatte, als die Revolution sich in jene Gegend hinzog, eine deutsche Mannschaft von 50 Köpfen gesammelt, seinen Hof verbarrikadiert, vorn und hinten die deutsche Flagge gehisst. Sein besonnenes und bewusstes Auftreten rang den Rebellen Achtung ab. Obwohl sein Hof Einquartierung erhielt, geschah doch nichts, was hätte Anlass zu Streitigkeiten geben können. Die Einquartierung ordnete sich seiner Befehle unter. Er ließ seine Deutschen als Posten aufziehen und handhabte militärische Zucht.

Nachdem die Rebellen abgezogen waren, ist der Hauptmann mit seinen Leuten ausgezogen, und hat alle Opfer von den Bäumen geholt. Die meisten waren bereits tot, oder starben kurz darauf.

(p.41) Solches hatte mir der Hauptmann noch nicht erzählt, und ich schätzte ihn dieser halb noch höher. Den Rest des Nachmittages verbrachte ich damit, das Anwesen des alten Francisco einer näheren Besichtigung zu unterwerfen. Der Alte gab mir über alles bereitwillig Auskunft, erzählt mir auch, dass der Hauptmann früher hier eine Brauerei betrieben habe, und dass das Anwesen heute noch dem Hauptmann gehöre. Diese Gelegenheit benutzend sagte ich: »Was zahlen Sie denn dem Hauptmann als Pachtsumme für diese Kolonie?«

»40 Milreis«, entgegnete der Alte.

»Sehr billig« sprach ich, »es muss Ihnen doch ein Leichtes sein, solch kleine Summe aufzubringen«. »Das ist doch viel, Signor« entgegnete er.

»Viel? Oh nein«, entgegnete ich, »bei uns in Deutschland würde so ein Anwesen sicher einige 100 Milreis kosten«.

»Tja, in Deutschland«, meinte der Alte, »da gibt‘s viel Geld, aber wenig zu essen. Deshalb kommen wir die Deutschen darüber, um sich hier satt zu essen.«

Mit feierlicher Stimme hatte der Alte gesprochen. Sowohl der Ernst seiner Rede, wie auch die Auffassung des Alten nötigten mir ein Lächeln ab. Das musste der Alte wohl gesehen haben, denn er fuhr fort: »Signor kann sich überzeugen, dass wir zu essen haben, sieh hier unsere Schweine, über 100 an der Zahl, sieh dort die Kühe, die Maulesel, das Federvieh, sieh hier die Felder mit Aigia(?) (brasilianische Kartoffel) und Zuckerrohr, siehst du das große Maisfeld, das alles können wir essen, aber es ist kein Geld«.

»Über 100 Schweine?« fragte ich verwundert, davon kann Signor Francisco doch 50 verkaufen, dann gibt‘s Geld, das Zuckerrohr wird doch auch gut bezahlt«. »Verkaufen«, meinte der Alte, »ja, das tun wir auch, wir haben noch letzte Woche 20 Schweine und drei Kühe verkauft, wir schlachten auch jede Woche ein Schwein, denn von den Schweinen leben wir, wir essen oft tagelang nur Fleisch«.

»20 Schweine und drei Kühe verkauft« erwiderte ich mit fester Betonung »da lässt der Herr Hauptmann den alten Francisco schön bitten, ihm die rückständige Pacht zu zahlen. Auch der Herr Hauptmann hat zu leben nötig, er hat nicht zu viel Schweine und sonstiges Vieh, auch nicht solch große Mais- und Zuckerrohrfelder. Aber seine Familie will auch leben, und da denke ich, dass Signor Francisco in der Lage ist, 40 Milreis für den Hauptmann übrig zu machen.

(p.42) Mit offenem Munde starrte mich der Alte an, und ich musste der Bemerkung des Metzger gedenken: Der alte Francisco lässt sich für einen halben Mil den Kopf spalten. Wie ich den Alten so mit offenem Munde vor mir stehen sah, und sein Mund gar nicht zu klappen wollte, sagte ich: »Ja so ist es, ich bin gekommen die Pacht zu holen, auf die der Hauptmann nun schon seit einem Jahr so schmerzlich wartet. Der Hauptmann ist, wie Signor Francisco weiß, ein guter Herr, Langmut ist seine Tugend, aber endlich muss doch alles bezahlt werden. Signor Francisco ist auch ein guter Mann, der nicht will, dass der Hauptmann Not leidet. Deshalb gibt Francisco dem Hauptmann von seinem Überfluss an Geld. Signor Francisco will ja nicht umsonst wohnen, auf der Kolonie des Herrn Hauptmann. Francisco ist ein freier Mann, und kein Sklave mehr. Freie Männer bezahlen mit Geld, Sklaven mit Arbeit«. Hierauf gewann der Alte seine Sprache wieder, er fragte: »Der Hauptmann leidet Not? Das soll nicht«.

»Ich denke auch«, erwiderte ich, der alte Francisco will nicht, dass es seinem Herrn an Geld fehle, und deshalb will ich der Überbringer sein. Dass ich die Wahrheit sage, sieh her, Signor Francisco, diesen Ring mit diesem Wappen gab mir der Hauptmann als Legitimation; Signor kennt den Ring, und weiß nun, dass ich wahr gesprochen.« Der Alte nahm den Ring, küsste ihn, und gab ihn mir sofort zurück.

Wir hatten uns während dieser Unterhaltung vom Hause entfernt, der Alte drehte sich um, und wir gingen wieder dem Hause zu. Dort angelangt, öffnete er den in der Stube stehenden Schrank, und zählte mir volle 40 Milreis in Papiergeld auf den Tisch. Ich dankte im Namen des Hauptmanns, und fügte bei: »Wenn jetzt Signor Francisco wieder auf Joinville kommt, braucht er das Haus des Hauptmanns nicht mehr zu meiden, wie am Weihnachtsfeste, wo er nicht gekommen ist, obwohl er in Joinville war. Der Hauptmann spricht viel von Francisco und sieht ihn gern«.

»Ich wusste nicht«, begann er kleinlaut, »dass es dem Hauptmann schlecht geht«.

»Schlecht geht es dem Hauptmann zwar nicht«, entgegnete ich, »doch muss jedem sein Recht werden«.

Ich spürte, dass es dem Alten recht schwer ankam, die 40 Milreis opfern zu müssen, doch war meine Aufgabe gelöst, und mit Erfolg gekrönt; ich gedachte anderen Tages meinen Weg zurückzunehmen.

Am Abend war der Alte wieder recht lebhaft, wir unterhielten uns von allerlei, hauptsächlich von Deutschland. Der Alte hatte ganz verschwommene Vorstellungen von meiner alten Heimat, flocht Wahres mit Falschem zusammen. Er hatte gehört von der Herrlichkeit der großen Städte, von den vielen Armen, von der großen Masse der Arbeiter, welche diese großen Städte bergen, und meinte, zum Sattessen haben die Leute in Deutschland nicht genug, aber schöne Kleider und schöne Häuser haben sie. Ich bemühte mich redlich, ihm das Leben in den deutschen Städten, den Reichtum und die Armut, die Arbeiter und Arbeitsgeber, auseinanderhaltend zu schildern.

(p.43) In seinem Negerkopf stand es nun einmal fest, dass Deutschland viel für Luxus ausgebe, dabei aber nicht satt zu essen habe.

Bald lenkte ich das Gespräch auf die brasilianische Vogelwelt. Der Alte war ein Kenner in diesem Fach, hatte auch schon den Spottvogel gesehen, ein äußerst schlaues Tier, der zu später Nachtzeit als letzter Sänger des Urwaldes jeden Laut wiedergibt, der am Tage gefallen ist. Ich hingegen erzählte ihm von unserer Vogelwelt, und kam auf den Kuckuck zu sprechen, der ein Vogel sei, der seinen eigenen Namen rufe. Einen Kuckuck gab‘s in Brasilien nicht, wenigstens nicht in jener Gegend, denn der Alte hatte noch keinen Kuckucksruf gehört. Ungläubig schüttelte er den grauen Kopf und meinte, kein Vogel kann seinen eigenen Namen rufen. Ich suchte ihm die Tatsache dahin klarzumachen, dass der Kuckuck, weil er eben nur Kuckuck rufen könne, Kuckuck genannt würde.

Die kleine vertrauliche Hausschwalbe war dort sehr stark vertreten.

Dann kamen wir auf unseren Winter zu sprechen, wo solche Vögel wieder in wärmere Gegenden ziehen, denn bei uns kann es so kalt werden, dass das Wasser so hart wird, als Stein, und man darüber gehen kann. Der Alte, dem der Inbegriff aller Kälte doch noch 3 Grad Wärme war, schüttelte energisch sein weißes Haupt und sprach: »Die Deutschen sind keine Heilige, die mitunter wunderbar übers Wasser gegangen sind. Nun er eine solchen Lüge aus meinem Munde gehört habe, glaube er mir nichts mehr. Er glaube mir jetzt auch nicht mehr, dass ich beauftragt sei, die Pacht zu holen. Der Alte geriet in immer größere Aufregung, während ich versuchte, ihm die Natur des Eises begreiflich zu machen. Er und seine ganze Familie kannten, auch im strengsten Winter, immer noch 3° Wärme zur Nachtzeit. Die größte Kälte bildete strichweise alle zehn Jahre einmal etwas Reif.

So war ich durch meine kalte Heimat in eine missliche Lage geraten. Dass mir der Alte nicht mehr traute, und in mir einen Lügner vermutete, beunruhigte mich, und glaubte ich bereits das Gastrecht verscherzt zu haben. Doch geschah nichts, was mir zum Verlassen des Hauses hätte Anlass geben können. Der Alte aber war fortan für mich nicht mehr zu sprechen, er ging an mir vorüber, als ob ich nicht da wäre. Die anderen Mitglieder seiner Familie unterhielten sich vor wie nach mit mir; die kleinen Kinder waren mir besonders zugetan. Aber auch bei diesen wäre ich beinahe in Misskredit gekommen, denn eines dieser kleinen legte mir die Frage vor: »Onkel, gibt es auch schwarze Teufel?« Diese Frage, die in Deutschland jeder dahin beantwortet hätte, die Teufel sind ja alle schwarz, wurde mir so unvermittelt vorgelegt, dass ich keine rechte Antwort gefunden hätte. Deshalb sprach ich: »Soll es geben mehr weiße, als schwarze Teufel«. Eine Befriedigung ging durch die kleine Schar; war doch der Ausspruch ihres weißen Nachbarn, des kleinen Otto, zunichte geworden, der ihnen stets gesagt hatte: Die Teufel sind alle schwarz.

(p.44) Ich war bei diesen kleinen Schwarzen ganz populär geworden, ein jedes wollte ein schmeichelhaftes Wort von mir erhaschen. Dieser Umstand mochte auch wohl dazu beitragen, dass der alte Francisco mir sein Haus nicht verbot; eine Beachtung schenkte er mir indes nicht.

Die Nacht verbrachte ich in einer Hängematte. Der nächste Morgen sah mich beizeiten auf den Beinen. Der alte Francisco schlief noch. Ich ging nach der nächsten Wirtschaft, mir einige Zigarren zu kaufen. Dort traf ich einen jungen Mann, den ich schon irgendwo gesehen zu haben glaubte. Deshalb sprach ich ihn an, und erfuhr, dass er wirklich aus der Joinwiller Gegend stammte. Er war auf der Suche nach einem neuen Grundstück, denn ihr Grundstück bei der Stadt sei bald müde und müsse gedüngt werden. Deshalb wollten seine Eltern dort verkaufen, und weiter zum Urwald hinein.

Da durchfuhr mich der Gedanke, das sei vielleicht ein guter Reisegefährte, und ich fragte ihn, ob er wohl gewillt sei, meine Begleitung anzunehmen, ich sei ebenfalls auf Landsuche, wenigstens wolle ich mir Land und Leute ansehen. Er sagte gern zu. Über den einzuschlagenden Weg waren wir bald einig: Über Reichenberg nach der Hansa zu.

Darauf verabschiedete ich mich von meinem neuen Reisegefährten, welcher sich Adolf nannte, und versprach in 1 Stunde zur Abreise fertig zu sein.

Im Hause des alten Francisco packte ich meinen Rucksack von neuem mit Esswaren, ordnete mein Kartenmaterial und nahm Abschied von allen im Hause. Wieder küssten mir die Kleinen die Hand, die Erwachsenen – auch der alte Francisco selbst – geleiteten mich bis zur Straße, dort Abschied nehmend, wo ich dem Alten freundlichst dankte für seine Herberge, schloss ich mit den Worten: »Wenn auch, Senior Francisco, unsere Ansichten betreffs des Eises auseinandergehen, so soll doch kein Eis unsere Herzen trennen. Fragen Sie einmal den Hauptmann danach, er wird mir Recht geben«. »Den Hauptmann«, erwiderte der Alte, »werde ich fragen, ob er dir seinen Ring wirklich übergeben hat.« Ich beachtete diese Anspielung auf einen Diebstahl nicht, nahm rasch Abschied, und verschwand um die nächste Hausecke.

Als ich in der Wirtschaft wieder eintraf, fand ich meinen neuen Reisegenossen in lebhafter Unterhaltung. Der Wirt, ein langjähriger Bewohner von San Bento, erklärte ihm eingehend die dortigen Verhältnisse, und empfahl ihnen, diese oder jene fertige Ansiedlung zu kaufen. Aber etwas Fertiges wollte Adolf nicht, überhaupt nichts fest kaufen, sondern erst die Gegend ansehen, den Absatz der Produkte, und vieles mehr erforschen, und womöglich Regierungsland kaufen.

(p.45) In der Gegend von San Bento war bereits alles Privatbesitz, doch gab es noch sehr viel Urwald mit wertvollem Holz, wovon der Morgen durchweg mit 12-15 Mark bezahlt wurde. Das Holz des Urwaldes ist sehr verschiedenartig. Da stand sehr Minderwertiges, neben dem gesuchtesten Handwerkerholz. Vor allem fiel mir oft ein Baum auf, der regelrecht auf seinen Wurzeln 4-5 m hoch erst seinen Stamm entwickelte, d.h. die Wurzeln hoben den Baum 4-5 m aus dem Erdboden, und verbanden sich dann erst zum eigentlichen Stamm, der dann nicht selten einen Durchmesser von 3-4 m aufwies. Einen solchen Baum nannten die Kolonisten schlankweg »Wurzelbaum«. Er war ein Naturwunder im Reiche des Urwaldes.

Der junge Kolonist hat seine liebe Not, gutes Holz von Minderwertigem zu unterscheiden. Das gute Holz fand auf San Bento schon immerhin Absatz. Wer ein Grundstück mit vorwiegend gutem Holz kaufte, konnte den Kaufpreis oft vom Erlös des Holzes decken. Ein solches Grundstück suchte Adolf zu erwerben. Solche Grundstücke gab es, aber sie lagen abseits.

San Bento liegt auf dem Plateau eines Gebirges, welches mit vielen kleinen und größeren Tälern durchzogen ist. Jedes Tal hat seine Quelle und viele Nebenquellen. Wer das deutsche Sauerland mit seinen Tälern und Hügeln kennt, der hat eine Vorstellung vom San Bento-Gebirge. Ebenes Land ist wenig anzutreffen. Infolge des warmen Klimas eignet sich das Gelände zum Weinbau, auch Gerste und deutsche Kartoffeln gedeihen, die brasilianische Kartoffel, Mais und Zuckerrohr, sowie sämtliche deutsche Gemüsearten, Obstbäume und Beerensträucher gedeihen vorzüglich. Für Bananen eignet sich die Gegend weniger. Im Großen und Ganzen ist das Gebirge Südbrasiliens zum Anbau deutscher Kulturgewächse wohl geeignet.

Der Wirt, ein geborener Brasilianer, setzte Adolf dies alles auseinander, und gab ihm den Rat die Straße über Reichenberg nach der Hansa zu verfolgen, wo noch gute Grundstücke mit wertvollem Holz anzutreffen seien. Eben diesen Weg hatten wir zu gehen vereinbart, und schieden bald von dem Wirt, der uns gute Wanderung wünschte.

San Bento ist eigentlich nicht groß, eine Anzahl Häuser bildet das Zentrum, aber die Gegend ist weit mit Ansiedlungen bedeckt.

(p.46) Reichenberg liegt nicht weit von San Bento. Eine Straße, von mehreren Ansiedlungen belebt, führt dorthin. Man sieht sich auf diesen Gebirgskamm in eine deutsche Landschaft versetzt, so sehr mutet uns alles heimisch an. Hie und da trifft man ein Roggenfeld, Obstbäume und Beerensträucher, selbst deutsche Erd- und Himbeeren verleihen der Gegend einen heimatlichen Charakter.

Reichenberg war bald erreicht, ich spähte neugierig umher, ob ich nicht jene Dame wieder zu sehen bekäme, die so lamentierend die Postkutsche benutzt hatte. Aber nichts Bekanntes entdeckte ich. Ohne uns lange aufzuhalten, durchschritten wir den Ort. Die Ansiedlungen wurden bald wieder spärlicher, und wir befanden uns wieder in den Regionen des Urwaldes. Die Bäume längs der Straße waren gefällt, auf den entblößten Flächen wuchs üppiges Farnkraut, oft von 5 m Höhe, der Stängel von der Dicke eines Ofenrohrs, mit einem hübschen Wedel Farnblätter auf der Spitze. Unzählige Käfer und Schmetterlinge kreuzten unseren Weg. Es fing an recht warm zu werden. Ein fast ohrenbetäubendes Geschrei hob sich plötzlich zu unserer Rechten. Eine große Anzahl Parakis(?) (kleine Art Papageien) bekämpften sich gegenseitig, und übertönten mit ihrem Geschrei jeden anderen Laut.

Im Westen zog eine Wolke herauf, die das Herannahen eines Gewitters verkündete. Fast jeder Tag brachte Gewitter, so dass ich mich bereits an solch kleine Zwischenfälle gewöhnt hatte. Nach kurzer Wanderung fanden wir eine verlassene Arbeiterhütte. Hier beschlossen wir das Gewitter vorüber gehen zu lassen, und zugleich einen Imbiss zu nehmen. Das Gewitter kam, hielt uns aber länger auf, als wir vermutet hatten, da ein längerer Regen einsetzte.

Während dieser Zeit erzählte mir Adolf von seinen Vorlieben. Er war in Brasilien geboren, hatte aber deutsche Eltern, die aus dem Rheinlande stammten. Er hatte in Brasilien die deutsche Schule besucht, und sprach geläufig deutsch und brasilianisch.

Währenddessen hatte der Regen nachgelassen, und so machten wir uns auf den Weg zur Hansa. Kaum waren wir einige Schritte gegangen, als wir mit den Worten »bon dias« begrüßt wurden. Wir hatten niemanden gesehen.

(p.47) Erst als wir uns umschauten, gewahrten wir aus einem Seitenpfad einen jungen Mann heraufkommen, offenbar ein Deutscher. Wir erwiderten deshalb seinen Gruß auf Deutsch »Guten Tag«.

»Oh, Landsleute« rief er, »wohin des Weges?« »Nach der Hansa«, erwiderte mein Begleiter. »Grad mein Weg«, sprach der Ankömmling, wenn‘s gestattet ist will ich mich anschließen«. »Recht gern«, versetzte Adolf, »doch ist es Urwaldsitte, dass der Fremde, der Aufnahme erwünscht, seinen Namen und Zweck seiner Reise nennt«. »Kenne die Sitte«, entgegnete der Fremde, »bin aus Pommern, bin jetzt auf der Suche nach einem Matewald«.

Auch wir nannten ihm unsere Namen, und da der Zweck unserer Reise so gut übereinstimmte, wurde der Pommer als dritter Reisegenosse aufgenommen. »Na«, meinte Adolf, »jetzt werden wir wohl Glück haben, denn aller guten Dinge sind drei«.

Der Pommer wusste viel zu erzählen von Mate und seiner Behandlung. Er war Müller, und da die Blätter des Matebaums gemahlen, als Paraguay Tee in Deutschland auf den Markt kamen, so hegte er die Absicht, irgendwo im Urwald eine Mate-Mühle anzulegen. Er musste wohl bekannt sein in der Gegend, denn er schlug uns vor, einen Abstecher in ein Seitental zu machen, wo er ein reiches Matefeld vermutete. Wir ließen uns bereden, und gingen mit. Wir schlugen einen neu angelegten Weg ein, der aber mit schnell wachsendem Unkraut überwuchert war, und nur einen ganz schmalen Pfad frei ließ. Es kam mir vor, dass dieser Pfad nur vom Wild benutzt wurde, da uns das Unkraut recht oft um die Ohren schlug. Dass hier niemand wohnte, war klar, kein Roß und Wagen hatte diesen Weg passiert.

Nach einer halben Stunde führte der Weg plötzlich auf, ohne dass wir ein Matefeld in größerem Umfange entdeckt hatten. Wohl standen Matebäume einzeln und gruppenweise, aber ein eigentliches Feld von vorwiegend Matebäumen hatten wir nicht entdeckt. Nun wohin? Keiner wusste es, auch der Pommer wusste nicht, in welcher Richtung das vermutete Matefeld lag. Meine Karte sollte uns Aufschluss geben. Aber ein Matefeld war nirgends verzeichnet.

(p.48) Der Weg, den wir eingeschlagen hatten, war auf der Karte als projektierter Weg angegeben, und wies von dem Fleck aus, wo wir standen, in einer Entfernung von 9 km eine Negeransiedlung auf. Während ich auf der Karte den Weg abmaß, warf ich einen Blick nach vorn auf den Urwald, wo ich auf einer Blöße Affen zu sehen glaubte, und sagte deshalb: »Seht dort die Affen, die werden wohl den Pfad getrampelt haben«. Die beiden anderen sahen auch hinüber, während ich wieder zur Karte blickte, und eben die Worte sagte: »Nach links, und wir haben in eineinhalb Stunden die Negeransiedlung erreicht«, als der Pommer entgegnete: »Affen habe ich nun schon so viele gesehen, aber von dieser Größe noch nicht; es will mir scheinen, als ob es Menschen wären«. Bei diesen Worten sah ich auch hin, und gewahrte zu meinem größten Erstaunen, wie aus den zwei zuerst vermuteten Affen schon sechs geworden waren. Affen waren es nicht, Menschen waren es, und zwar Wilde, deren Zahl fortwährend wuchs, bald waren es elf. Es wurde mir doch etwas unheimlich, bei dieser plötzlichen Begegnung mit diesen Wilden, die Bugers genannt werden. Sie sollen sehr wild und raubsüchtig sein. Während ich meine Karte zusammen legte, sagte ich zu dem Pommer: »Schieß mal dein Gewehr ab, aber hoch in die Luft«. Auch wir machten unsere Gewehre schussbereit, während der Pommer seine Flinte abschoss. Kaum war der Schuss gefallen, als der Platz, wo die Wilden standen, auch schon leer war. Die Wilden mussten, als der Schuss fiel, sich niedergeworfen haben um im Unterholz zu verschwinden. Nach kurzem Überlegen gingen wir auf den Platz hin, fanden aber nichts, als geknickte Halme. Von den Wilden sahen und fanden wir keine Spur; kein Geräusch war zu vernehmen, nichts, rein gar nichts deutete darauf hin, wo die Wilden geblieben waren. Und doch mussten sie in der Nähe sein; vielleicht lagen sie dicht bei uns. Sehen konnten wir nicht weit, da der Urwald gerade an dieser Stelle undurchdringlich erschien. Wir hatten zwar nur elf Wilde gesehen, doch konnte ihre Zahl viel größer sein, wie leicht konnten sie aus ihrem Versteck ihre vergifteten Pfeile auf uns absenden.

(p.49) Ein längeres Verweilen war nicht ratsam, und auch zwecklos. Wir gingen nach dem verlassenen Pfad, und schlugen den Pfad links ein, der uns der Karte gemäß nach der Negeransiedlung bringen musste.

Ohne weiteren Unfall erreichten wir nach langer Wanderung eine Blöße, wo Getreide, hauptsächlich Mais und Zuckerrohr, angebaut war. Ein schmaler Pfad führt uns zur Hütte des Negers. So einfach und primitiv die Neger im Allgemeinen zu wohnen pflegen, so überbot doch die Einfachheit hier alles bisher Gesehene.

Es hatte hier einmal eine wirkliche Hütte gestanden, aber die Pfosten waren abgefault; das Dach war abgerutscht, und stand, selbst halb verfault schräg auf dem Erdboden. Der Neger kam uns entgegen und bot uns den üblichen Gruß, worauf wir mit dem selben antworteten. Dieser Neger verstand kein Deutsch, weshalb Adolf allein mit ihm sprechen musste. Adolf erzählte ihm von unserem Zusammentreffen mit den Wilden, worauf der Neger in sichtliche Erregung geriet, sodass wir annehmen konnten, dass ihm die Nähe der Wilden nicht sonderlich angenehm war.

Nach einer kleinen Ruhepause zogen wir weiter, nachdem wir erfahren, dass 2 Stunden weiter einen Weißer wohnte.

Der Tag neigte sich bereits dem Abend zu, als wir die Besitzung des Weißen erreichten. Nach der üblichen Anmeldeformel, wurden wir ins Haus gelassen. Es war die Ansiedlung eines Pommern, der auch zwar einfach lebte, doch gegen den Neger wie in einem Palast wohnte. Da nun unser Reisegenosse hier einen Landsmann traf, ließ er es sich nicht nehmen, demselben von den Wilden zu berichten. Auch dieser weiße Ansiedler wurde unruhig, und bat uns, einige Tage bei ihm zu bleiben; wir sollten seine Gäste sein. Wenn dann auch die Wilden kommen, werden sie keinen Angriff wagen, viel weniger ein Raub ausführen. Ihre Kundschafter spähen erst vorsichtig aus, wie viel streitbare Kräfte im Haus sind, bemerken sie schon zwei erwachsene Männer, so wagen sie keinen Angriff, es sei denn, dass ein Akt der Blutrache vorliegt. Ihr Raub geschieht stets in Abwesenheit der Männer. »Wenn ihr bei mir bleibt«, bat der Pommer, »so ist nicht zu fürchten, wir können im Gegenteil noch unsere Nachbarn beispringen, im Falle die Wilden dort angreifen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mit den Wilden zu kämpfen habe«.

(p.50) Wir blieben also des Pommern Gäste, und zwar acht Tage lang, von den Wilden haben wir nichts wiedergesehen.

Während unseres Aufenthaltes bei diesem Pommern erzählte er uns, wie er in diese abgelegene, den Plünderungsraubzügen der Wilden ausgesetzte Gegend verschlagen sei. Er war als Lohgerbergeselle nach Joinville gekommen, wo er ein Angebot zur Ansiedlung in diese Gegend angenommen habe, gegen freie Überlassung von 100 Morgen Urwald, und Lieferung von zwei Maulesel, nebst Wagen und Saatgetreide.

Er lebte bereits mit seiner Familie fünf Jahre dort, und zwar sehr billig, zu kaufen hatte er nur Salz und Petroleum. Alles andere hatte er selbst, an Fleisch oft Überfluss.

Adolf erkannte aus diesen Ausführungen bald, dass dieser zu jener Eskorte gehörte, die als Pioniere der Kultur vom brasilianischen Staat, gegen die von Wilden bewohnten Gegenden vorgeschickt werden; gleichsam einen Cordon bilden sollen gegen die Einfälle der Wilden auf besiedelte Gegenden. Diese Art Ansiedler bleiben so lange ungestört auf ihrem Besitztum, bis jene Gegenden mehr besiedelt werden, wo ihnen dann anheimgestellt wird, das Besitztum zu kaufen, oder weiter zu ziehen tiefer in den Urwald hinein gegen die Wilden zu, wo ihnen alsdann von neuem 100 Morgen Urwald überwiesen werden. Dieser Fall kann aber nur eintreten, wenn der Ansiedler versäumt hat, sich einen rechtmäßigen Besitztitel ausstellen zu lassen.

Der Urwald bietet in diesen Gegenden eine große Fülle von Schlingengewächsen, die mancherlei Verwendungsart zulassen. Er gleicht der großen Kuppel einer Riesenhalle durcheinandergedrehter Stränge von Ligonien(?). Gutifere (?) und Artizeen(?) ringeln sich wie Schlangenleiber in den Ästen zu schwindelnder Höhe, während weißer und grauer Zigo(?), gleich Telegrafendrähten, von oben nach unten laufen. Dazwischen webt das rankende Moos, die Tillandsia(?), ihren grauen, millionenfach verästelten Schleier.

(p.51) Um die Mittagszeit senkt sich der Wipfel des Urwaldes vor den Sonnenstrahlen. In seinem Schatten ruht sich gut, denn kein Sonnenstrahl vermag diese Kuppel zu durchdringen. Tausende von Käfern und Kolibris trinken den Saft aus Millionen süßen, lockenden Blumen. Hier schlummert der Ameisenbär in seiner Höhle, das Gürteltier in seinem Bau. Der Fuß des Wanderers scheucht Schwärme von Moskiten auf, die sich unter das feucht warme Laub verkrochen hatten.

Mit Einbruch der Nacht kommt neues Leben in den Urwald, die Drossel, der Ameisenvogel und andere mehr, lassen ihre Lieder erschallen. Der Hammerfrosch lässt dröhnend seine Stimme hören. Die Tiere des Waldes treten in ihre natürlichen Rechte, sie gehen nach Aasung. Jede Stunde der Nacht bringt neue Tierstimmen, bis die kühle Morgenluft dem Spottvogel sein alleiniges Recht verschafft.

Der Zigo, welcher in großer Menge den Urwald durchzieht, wird von Urwaldbewohnern als Zugstränge für Pferde verwendet; durch seine natürliche zähe Beschaffenheit eignet er sich zum Einfrieden von Weiden. Der Kolonist benutzt ihn vielfach zum Aufbau seines Hauses.

Auch das Haus des Pommern wurde ganz von diesem Zigo zusammengehalten. Kein Nagel war hier verwendet, der Zigo hatte alles ersetzt.

Die Zeit welche wir bei diesem Pommern zubrachten, benutzten wir, um auf allerlei Wild Jagd zu machen, besonders auf Schlangen, die oft unter dem Hühnerbestande arg aufräumten. Etliche 100 Schlangen haben wir erschlagen oder erschossen, so dass wir annehmen konnten, die nächste Umgebung sei rein von diesem Getier. Unser Reisegefährte, der Pommer beabsichtigte sich hier bei seinem Landsmann anzukaufen, da diese Gegend viel wild wachsende Mate aufwies.

Endlich kam die Zeit, wo wir ohne Besorgnis für unseren Hausherren weiterziehen konnten, denn die Wilden halten sich auf ihren Streifzügen nie lange in einer Gegend auf.

(p.52) Besonders da, wo sie sich bedroht fühlen, verschwinden sie schleunigst von der Bildfläche, und schlüpfen, wenn nötig, durchs Unterholz, gewandt wie eine Eidechse.

Der Morgen des neunten Tages sah uns wieder auf der Wanderung. Da das Anwesen des Pommern abseits lag, geleitete er uns auf sicherem Pfade bis zur Landstraße, wo er vielmals dankend von uns schied.

Am späten Nachmittag langten wir in Humboldt an, wo wir eine Nacht im Einwandererhause verbrachten, um dann in zwei Tagen Joinville wieder zu erreichen.

Ich war 15 Tage fort gewesen. Der Hauptmann hatte schon Besorgnis um mich gehabt. Doch als ich wieder wohlbehalten vor ihm stand, in dem selben Anzug wie ich ihn verlassen hatte, da lächelte er vergnügt und Frau Hauptmann ließ es sich nicht nehmen, rasch einen guten Eierkuchen zu backen.

Dann musste ich alle meine Erlebnisse erzählen. Der Hauptmann hörte auch wirksam zu, und freute sich, dass ich das Geld brachte.

Dann wurde das Kartenmaterial gesichtet, wo ich einige neue Ansiedlungen und Brücken verzeichnet hatte. Der Hauptmann war des Lobes voll über meine Leistungen, und bot mir einige Tage später eine seiner Töchter als Frau an. Doch lehnte ich dies dankend ab, denn er war Protestant; eine gemischte Ehe einzugehen lag mir fern. Trotz dieser Ablehnung erkaltete sein Wohlwollen gegen mich nicht; er sorgte für mich wie ein Vater, und legte mir, obgleich er eine Abneigung gegen alles Katholische hatte, doch niemals etwas in den Weg bei Ausübung seiner religiösen Pflichten.

Trotz der liebevollen Behandlung und trotz der wunderbar herrlichen Gegend, beschlich mich doch das Heimweh, ich glaube, dass diese Sehnsucht in jedes Menschen Herz gelegt ist. Sie kommt zuerst leise, dann immer stärker, und wenn kein gebietendes »Halt, nicht zurück« vorgeschoben ist, wird dieser Sehnsucht mancher unterliegen.

Der Hauptmann mochte wohl ahnen, wie es um mich stand, und schickte mich auf eine zweite Reise zu einer entlegenen Kolonie.

(p.53) Diese Kolonie stand zum Verkaufe, und war der größte Privatbesitz dortiger Gegend. Er umfasste nahezu den Flächeninhalt eines preußischen Regierungsbezirks. Der Eigentümer, ein spanischer Graf, war fortgezogen und hatte die Besitzung dem Hauptmann zum Kauf angeboten. Diese große Besitzung, obgleich auf dem Festland gelegen, hatte keine Landverbindung, da alles undurchdringlicher Urwald war. Der Wasserweg, ein kurzer, aber breiter Fluss bot die einzige Verbindung mit Sao Francisco und Joinville.

Nach dieser Kolonie zu gelangen, musste ich einen Kahn mieten, und einen Neger als Ruderer dazu. Wir fuhren gegen Abend bei Mondschein los, umschifften die Landküste, und gelangten zur Zeit der Flut im breiten Strom an, der die Kolonie durchfloss. Es ging flott ins Land hinein, da die Flut unseren Kahn behende mit forttrieb. Als aber später die Ebbe eintrat, vermochten auch die kräftigsten Ruderschläge nicht, den Karren weiter zu bringen. Das abgehende Wasser drang stark dem Meere zu. Wir mussten liegen bleiben, und neue Flut abwarten. So ging es zwei Tage lang, durch tropischen Urwald, von Kolibris und Schmetterlingen massenhaft umschwärmt. Am dritten Tage morgens kam die Kolonie in Sicht. Das Herrenhaus war ein recht ansehnliches Gebäude, ringsum lief eine breite Galerie, welche stellenweise mit Weinreben dicht umschlungen war. Die Arbeiterwohnungen lagen ziemlich verfallen am Boden. Rudel großer und kleiner Schweine liefen durcheinander. Da kein Mensch da war, der ihnen Futter gab, so hatten sie ganze Flächen umgewühlt. Das Interessanteste bot das Hühnervolk. Hier waren die Hähne ebenso zahlreich vertreten, wie die Hühner. Hunderte von Küken suchten in den zertretenen und umgewühlten Reis-und Maisfeldern ihre Nahrung. Der einzige Mensch, den ich hier eintraf, war der Verwalter, ein bejahrter Neger, der dieser ungehinderten Vermehrung keinen genügenden Damm entgegenstellen konnte. Er bat uns, an seiner Mittagstafel teilzunehmen, es gab Eierkuchen.

(p.54) Eierkuchen aß der Alte tagtäglich. Eier standen dem Alten ja in unbeschränktem Maße zur Verfügung. Er zeigte uns Nester mit 80-100 Eiern. Er führte hier ein wahres Schlaraffenleben, nur dass die Spanferkel nicht als gebraten herumliefen. Auf meine verwunderte Frage, warum denn die vielen Hähne herumliefen, erwiderte der Verwalter: »Signor, es ist niemand da, der sie aufisst. Sehen Sie, die Hühner legen Eier, brüten und trollen bald mit einer jungen Kükenschar los. Es ist gar nichts Seltenes, dass Glucken mit 30 jungen Küklein erscheinen!«

Beim Fortgang des Grafen waren Hühner und Schweine zurückgeblieben, und vermehrten sich ungehindert weiter.

Die Kolonie zeigte etwa 500 Morgen Ackerland, ebenso viel Weideland, der weitaus größte Teil war noch Urwald. Wegen seiner ungünstigen Lage stand der Hauptmann vom Ankauf ab, obgleich ungemein fruchtbarer Boden vorlag, der sich vorzüglich für Reis und Bananen eignete. Geflügelzucht würde sich auf alle Fälle gelohnt haben, da die Tiere sich geradezu mästen konnten von den durch die Flut ausgeworfenen Fischen und Kerbtieren. Überhaupt zeigte die ganze Küste eine Fülle von Kerbtieren und Schildkröten.

Wenige Tage später trat ich meine Heimatreise an. Nach herzlichem Abschied vom Hauptmann und seiner Familie trug mich der Küstendampfer »Porto Alegre« nach Santos, der zweitgrößten Stadt Brasiliens. In Santos fällt dem Reisenden die große Menge der Maulesel auf. Frisch melkende Kühe werden als lebendige Milchwagen durch die Straßen geführt. Die Klingel des Führers mahnt die Anwohner, Milch zu kaufen. Der herbeieilenden Kundschaft wird hier frische unverfälschte Milch geboten.

»Rio de Janeiro«, die Hauptstadt Brasiliens wird ringsum von einem Hochplateau herrlicher Wälder mit anmutigen Föhren umgeben. Die Stadt selbst liegt tief, am Gestade der See. Heiß ist die Luft, und nur selten streicht ein kühlender Hauch durch dieses Häusermeer.

(p.55) Deshalb eilt alles, was eben abkommen kann, in die Berge des Hochplateaus, 700 m über dem Meere, wo eine köstliche Luft herrscht. Hier sind im Laufe der Zeit die herrlichsten Villen entstanden; besonders seit der Kaiser San Pedro eine gute Straße und Eisenbahn dorthin gebaut hatte. Der Kaiser selbst verlegte im Sommer seinen Hof nach Petropolis, einer urdeutschen Ansiedlung des Hochplateaus. Die Regierung, die Diplomaten, und die vornehme Welt folgten des Kaisers Beispiel. Die einfachen deutschen Bauern, die dort oben ihren Kohl bauten, sahen aus ihren Feldern Straßen mit Palästen und Villen entstehen. Heute ist von dieser Uransiedlung nichts mehr zu sehen. Die Kolonisten sind abgedrängt worden, ihre Nachkommen sind weitergezogen ins Innere des Landes.

Therezopolis, ursprünglich eine schweizerische Niederlassung, heute aber ein beliebter Sommeraufenthalt, 1000 m über dem Meeresspiegel. Eine Zahnradbahn mit der Hauptstadt verbunden, wird der Besucher durch die wunderbarsten Berggegenden geführt.

Schon von Rio de Janeiro aus, kann jeder Fremde die grotesken Felsen und Türme bewundern, die in der Ferne hervortreten. Am auffälligsten sind die Zacken des Orgelgebirges, deren westlichster Zacken wie ein dünner Kirchturm aussieht, aber die 13-fache Höhe der Kölner Domtürme erreicht. Seine höchst eigenartige Gestalt hat ihm den Namen »Finger Gottes« gegeben. Dieser Finger Gottes verfolgt den Reisenden nach seinem Eintreffen auf dem Hochplateau überall hin. Immer wieder wird unser Auge von diesem wundersamen Felsgebilde angezogen.

Auf diesem himmelaufstrebenden Felsen, vor dem uns die Kölner Domtürme wie Maulwurfshügel erscheinen, hat einmal die brasilianische Flagge geweht; waghalsige Menschen haben sie dort oben befestigt. Aber keiner hat sie wieder heruntergeholt, und keiner hat sie nochmals aufgesetzt, und wird dieses Kunststück auch so leicht nicht wieder ausgeführt werden.

(p.56) Der dem Finger Gottes zunächst stehende Granitfelsen, der eine Höhe von etwa 2 km aufweist, ist nicht so schlank wie dieser. Auf seiner Spitze ruht eine gewaltige Steinkugel, von der Größe einer Kirche, die jeden Augenblick abzufallen droht. Fast wäre man geneigt ein wenig zu warten, bis dieser Fall eintritt. Doch steht die Kugel heute noch oben, und wird auch wohl stehen, bis zum jüngsten Tage.

Diese Gegend von Therezopolis ist eine der schönsten Gegenden der Erde. Immer und immer wieder entdeckt das Auge neue Wunder der Natur. Malerische Landschaften, bezaubernde Wasserfälle, die wunderlichsten Felsgebilde, bieten dem Auge eine ungeheuer große Abwechslung. Hier hat die schöpferische Hand Gottes Großartiges geschaffen.

Vom Dampfer aus, der uns der deutschen Heimat wieder zurückbringt, sieht man den Finger Gottes, seine Flanken von Nebelwellen umzogen, seine Spitze klar in den blauen Himmel aufragend.  

  •  – Ende   –